Anandas Reise. Andreas Milanowski
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Andreas Milanowski
Anandas Reise
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Inhaltsverzeichnis
1 Aquil
Ich weiß, es ist nicht möglich, aber ich höre sein Herz schlagen. Hundert Meter oder mehr kreist er über mir, vom Wind getragen, weit draußen in den Felsen über der Schlucht. Seinen hohen, rauen Schrei? Sicher! Die Felswände werfen mir sein Echo zu. Doch den Rhythmus seines Herzens?
„Der Zweifel, Ananda, ist der Feind der Gewissheit und des Glaubens. Er zerstört das Vertrauen in deine innere Stärke und Kraft!“
Verdammt, das ist seine Stimme?
„Wo bist du?“, brülle ich, mit all meiner Kraft gegen den stärker werdenden Wind. Ich weiß, dass mich niemand hört hier draußen - niemand außer ihm.
„Ananda, du sollst nicht fragen. Gehorchen, zuerst dem Meister, dann der Natur, am Ende dir selbst, deinen Instinkten. Deine Welt ist klein, viel zu klein, um Fragen zu stellen.“
Plötzlich ist er wieder da. Bumm – Bumm, Bumm - Bumm, der Puls der Liebe, der für einen unendlichen Augenblick still geworden war. Dann: ein Gedanke! Ein Gedanke, der durch meinen Kopf jagt wie ein Pfeil, mein Hirn zerfetzt. Meine Sinne: betäubt, als sei das Geschoss mit einem Nervengift getränkt. Ein Gedankenpfeil, den der Meister in die Sehne gelegt hatte - sein Gedanke.
„Ein Unglück, es war ein Unglück!“, beteuert er, fast flehentlich, als wolle er mich davon abhalten, weitere Fragen zu stellen, den Dingen auf den Grund zu folgen, als habe er die Befürchtung, ich könne eine Dummheit begehen, erführe ich nur, dass es doch etwas anderes gewesen sei, ein abscheulicher Mord vielleicht, ein Verbrechen?
„Selbstverständlich!“, denke ich. „Ein Unglück. Du musst es ja wissen!“ Die Kälte leckt sich durch meinen Leib wie ein feindliches Wesen, dass mir, unendlich langsam, als wolle es jeden Moment seiner Grausamkeit genüsslich auskosten, die letzte Wärme, alles Leben aus dem Körper saugt, Zelle für Zelle. Die nackten Fußsohlen, dann die Knie, die Schenkel hinauf, weiter nach oben, durch Hüfte und Bauch, in die Brüste, die vor Kälte steifen Brustwarzen, die Schultergelenke, den Kopf, bis in die Haarspitzen. Mein Körper ist hart, jede Bewegung schmerzt.
Zu weit auf den Berg hinauf gewagt hätten sie sich, die Beiden. War das die Nachricht? Hat er mich gerufen, um mir diese Mitteilung zu machen?
„Wie? Wie ist er gestorben?“ Ich spüre eisigen Wind statt einer Antwort. Fragen stehen mir nicht zu. Fast hatte ich es vergessen. Ich bekomme, wenn er das für richtig hält, Antwort auf Fragen, die ich nie gestellt habe. Die meinen bleiben unbeantwortet. So war das immer zwischen uns.
Mit einem Mal ist Stille - unwirklich, die Stimme verstummt. Der Schlag des Herzens? Nicht mehr zu hören. Selbst das Flüstern des Windes erstirbt, als traue das gewaltige, weiß - graue Felsgestein sich das Atmen nicht mehr an. Auch mir fällt das Luftholen schwer.
Das Geräusch des Flügelschlags ist in der dünnen, kalten Bergluft schärfer und lauter, deutlicher wahrnehmbar als unten im Tal, wo die Luft wärmer und weicher ist, sich mit anderen Klängen sättigt. Trotzdem höre ich das Rauschen erst im allerletzten Augenblick, weil er gleitet, nicht fliegt. Instinktiv lasse ich mich fallen, stürze flach auf den Boden, reiße mir die Handflächen an scharfkantigen Steinen auf. Zu spät! Ich spüre, wie der Vogel über mich kommt, seine messerscharfen Fänge in mein Fleisch schlägt, fühle, wie er mich packt, nach oben reißt und sich, ohne Zögern, in einer fast fließenden Bewegung, mit meinem Körper als zappelnder Last, hoch in die Luft emporhebt. Die Beute ist das Glück des Jägers. Die Beute bin ich.
Ich schreie, schreie vor Schmerz, weil ich hilflos bin, nichts anderes tun kann. Als er, kaum spürbar, seinen Griff ein wenig lockert, drehe ich meinen Kopf, versuche, nach hinten, nach oben zu schauen. Ich will nicht in diese Schlucht hinunterstürzen, auf den spitzen, scharf in die Höhe ragenden Felsen aufschlagen – bitte! Schon sehe ich meinen Körper, aufgespießt, zerstückelt, zerschmettert, zerstört. Ich ahne das gewaltige Raubtier über mir. Blitzschnell werfe ich mich herum, greife nach seinen riesigen Schenkeln und kralle mich mit der Kraft der Verzweiflung in seinem Gefieder fest. Er lässt es geschehen. Seine Federn stinken nach ranzigem Talg. Schnell gewinnen wir an Höhe. Aquil ist stark, unfassbar stark und ich bin ihm ausgeliefert, ohne Schutz. Seine Kraft durchströmt meinen Körper. Ich fühle mich seltsam sicher.
„Das habe ich dich nicht gelehrt, Lexananda!“, höre ich seinen scharfen Tadel. Wenn er mich beim vollen Namen nennt, ist er zornig. „Du warst unkonzentriert wie ein verspieltes Kind. Wäre statt meiner ein Feind gekommen, wärst du jetzt ausgelöscht.“
„Ich weiß, Aquil“, antworte ich, „ich weiß! Wir hatten das schon!“
„Ja, wir hatten das! Und trotzdem scheint es mir, als möchtest du lieber sterben, als endlich die Lehre aus dieser Lektion zu ziehen. Du weißt, dass Träumerei und Verstreutsein dich hier dein Leben kosten.“
„Selbstverständlich weiß ich das. ich bin keine Närrin.“
„Und doch konnte ich dich überraschen!“
„Ich bin nicht für diese Welt geboren“, rufe ich ihm zu und versuche ein gequältes Lachen. Es misslingt. Meine Hände, Arme und Beine sind bereits mit einer dünnen Eisschicht überzogen, sind taub. Ich spüre sie nicht mehr, nicht einmal den Schmerz, den mir die offenen Wunden bereiten müssten. Das Blut läuft mir die Seiten hinunter und gefriert sofort auf der Haut zu kleinen, roten Perlen. Ich sehe hinab ins Tal, dann hinüber zu der schroffen, kalten Felswand. Dort oben habe ich noch vor wenigen Augenblicken gestanden. Dort hatte mich Aquil gegriffen.
Etwas tiefer sehe ich die mächtige Kathedrale, spitz wie ein Zuckerhut, die anderen Behausungen und Wege, die die Ongloshin kunstvoll aus dem Felsen herausgehauen haben, sogar den Eingang von Lex, dem Bau meiner Sippe. Dieser kargen, unwirtlichen Umgebung ein Leben abzutrotzen, das erfordert viel Kraft und enorme Willensstärke. Einige waren des täglichen Kampfes müde geworden, hatten ein bequemeres Leben unten in der Hauptstadt vorgezogen, weit, weit weg von den andantinischen Bergen, weg von Giusto, den harten Regeln der Gemeinschaft und ihres Zusammenlebens. Alle, die es versucht hatten, waren, soweit ich mich erinnere, wieder zurückgekehrt. Alle, bis auf eine. Sonderbar genug für eine Ongloshina, dass sie sich dem fragwürdigen Abenteuer der Liebe hingegeben hatte, war der Auserwählte nicht einmal einer der Unsrigen gewesen, sondern ein Menschenmann aus der Largo-Ebene. Die verrückte Yien hatten sie sie genannt. Ich hatte sie gemocht, nicht nur, weil sie meine Vaterschwester war.
Plötzlich schlägt der Adler mit den Flügeln. Das bewegungslose Stehen im Aufwind scheint beendet. Mit einem harten Ruck zieht er nach oben. Gleichzeitig hebt er seine Beine, sodass ich den Halt verliere. Dieser Teufel, dieser Dämon in der Gestalt eines Raubvogels – er will mich abwerfen, in die Tiefe stürzen? Der nächste harte Flügelschlag. Er will mich tatsächlich töten – warum?