Stille Nacht. Johann Widmer

Stille Nacht - Johann Widmer


Скачать книгу
>

      Stille Nacht - Kurzgeschichten

      Stiftung Augustine und Johann Widmer, Hrsg.

      © Stiftung Augustine und Johann Widmer

      Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werks darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Bildungszentrums reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

      www.johann-widmer.ch

      ISBN: siehe Umschlag

      1. Auflage 2021

      Vorwort

      Ein bunter Strauss von Geschichten, der Autor nennt sie auch «Weihnachtsgeschichten», weil sie alle irgendeinen Bezug zu Weihnachten oder zur (grauen) Adventszeit haben.

      Inhaltlich oder weil sie zufällig zur Weihnachtszeit entstanden sind.

      Einstimmung auf das grosse Fest der Freude, der Liebe, der Hoffnung und der vielen Geschenke. Fröhlich bimmeln die Weihnachtsglocken in der Ladenkasse und die fette Weihnachtsgans singt in der Ofenröhre «O du fröhliche»

      Und das in einer lichtarmen Zeit, die oft durch trübes, nasskaltes Schmuddelwetter geprägt ist.

      Für sensible Menschen oft nur schwer zu ertragen.

      Einige dieser Geschichten werden diese nachdenkliche Stimmung wiedergeben, aber auch besinnliche Gedanken wecken und solidarische Gefühle und Verständnis für all jene, die keine «frohen» Weihnachten feiern.

      Die Geschichten eignen sich sehr gut zum Vorlesen

      Friede auf Erden

      Weihnachten 1962

      Bei hochsommerlicher Backofenhitze, der Sonne im Höchststand und den allabendlichen, heftigen Gewitterstürmen stellt sich bei uns Europäern nur schwer «echte» Weihnachtsstimmung ein.

      Kalender hin oder her.

      Zwar versuchten wir unseren Kindern mit Adventskranz, Kerzenschein und deutschen Weihnachtsliedern eine Ahnung christlicher Kultur zu vermitteln, aber weder die schmelzenden Kerzen noch das frierende Kindlein in der Krippe passten so recht in diese Umgebung und nicht einmal das beinharte Weihnachtsgebäck, das unser Boy frei improvisierend aus Manjokmehl hergestellt hatte, fand besonderen Anklang.

      Einzig der zusammenklappbare, immergrüne Plastikweihnachtsbaum, der sich, ferngesteuert, mit blinkenden Lichtern langsam drehte und dabei «Jingle Bells» spielte, fand Zustimmung, allerdings nur, bis die technikinteressierten Leutchen hinter die Geheimnisse der Fernsteuerung gekommen waren, dann überliessen sie das Wunderding wieder seinem stolzen Besitzer, dem amerikanischen Missionar, Reverend Jackson.

      Ein lieber Mensch, aber völlig weltfremd.

      Von fanatischem altruistischem Helferwillen getrieben und schliesslich in Schwarzafrika als Strandgut angelandet, versuchte er das Beste aus der Situation herauszuholen.

      Er war nicht der Einzige.

      Ein letzter Versuch meinerseits, wenigstens etwas von den geistigen Inhalten dieses Festes zu retten, misslang ebenfalls, denn wie kann man einem Kind die Botschaft von Frieden auf Erden erklären, wenn sich drei Kilometer westlich des Hauses ein Minenfeld befindet, in dem schon einige Kinder unserer Schule ein Bein, einen Fuss, ein Auge oder gar ihr Leben verloren hatten, oder, wenn man nachts wegen des nahen Geschützdonners oder Maschinengewehrfeuers jenseits der Grenze nicht schlafen kann, und wenn man jeden Morgen die völlig ausgehungerten Gestalten der Vertriebenen auf der Strasse unten vorüberziehen sieht, die von gut genährten Polizisten begleitet, recht rüde und brutal ins nahe Flüchtlingslager getrieben werden...

      Flüchtlingslager.

      Das Wort «Lager» weckt düstere Erinnerungen in mir.

      Wer hier ankommt, ist traumatisiert und hat eine verbrannte Heimat hinter sich.

      Aber jeder hofft, es sei das Tor in eine neue Welt in ein neues Leben.

      Fünf Jahre später merkt er, dass sein neues Leben «Lager» bedeutet.

      Lagerleben kann Generationen dauern.

      Friede auf Erden. Unser Missionspfarrer war jeden Morgen damit beschäftigt, den vor Hunger sterbenden Kindern und Müttern geistlich beizustehen, wie man das so schön nennt, aber sein geistliches Brot machte niemanden satt.

      Unser Arzt, ein junger und noch unerfahrener Idealist aus Rumänien, kämpfte ziemlich vergeblich gegen den Tod, der in mannigfaltiger Form im Lager umging.

      Der Sensenmann schien die Heilkunst zu verspotten.

      Jeden Morgen bewegten sich bunte Züge auf der Hauptstrasse zum Kirchhügel. Eine Gruppe von Musikern und Gauklern ging dem bunten Zug voran und ihre grossen Trommeln und die schrillen Pfeifen verbreiteten eine Höllenmusik, die durch Mark und Bein ging. Die Gaukler und Akrobaten, alle weiss bepudert, sollten die Gesellschaft mit ihren derben Spässen zum Lachen bringen.

      Eine Gruppe von Klageweibern umtanzte heulend, kreischend, schreiend und mit schrillen Youyou - Rufen die dunkel gekleideten Leichenträger, die mit der fest verpackten und verschnürten Leiche auf ihren Schultern würdevoll dahinschritten.

      Schwarze Zylinderhüte, weiss bemalte Gesichter und dunkle Sonnenbrillen.

      Allegorie des Todes oder absurdes Theater.

      Dahinter kam die singende Trauergemeinde mit dem Priester in ihrer Mitte unter einem Baldachin, der ihn vor der sengenden Sonne schützte.

      Den Schluss des Zuges bildeten zwei Soldaten mit geschulterten Gewehren.

      Jeden Morgen, mehrmals, das gleiche Spektakel.

      Neben dem Hunger wüteten schlimme Krankheiten und Seuchen aller Art unter den Flüchtlingen und als ob das nicht genügen würde, kamen jeden Morgen schwer verletzte, zum Teil arg verstümmelte oder verbrannte Freischärler über die Grenze. Helden, von denen in wenigen Tagen oder Stunden nur noch ein einfaches Kreuz mit Erkennungsnummer auf einem kleinen Erdhügel übrigbleiben wird, Helden, von denen schon bald niemand mehr redet.

      Friede auf Erden. Man sprach wieder einmal von Frieden im Nachbarland.

      Die grossen Hetzer und die scharfen Bluthunde trafen sich kurz vor Weihnachten auf neutralem Gebiet mit Staatsmännern aus der ersten, aus unserer Welt. Regierungschefs und andere Politiker, die für die bevorstehenden Wahlen in ihren Ländern Pluspunkte sammelten. (oder Schmiergelder?)

      Dazu eignen sich Friedensgespräche in der Vorweihnachtszeit besonders gut. Hände werden geschüttelt (und gewaschen) vor laufender Kamera und jeder setzt sein wohlgefälligstes Lächeln auf. Lächelnd die Zähne zeigen, grinsen, wie die vielen gebleichten Totenschädel die dort drüben, jenseits des Grenzflusses überall herumliegen. Denen ist das Lachen endgültig vergangen.

      Nicht so der rührigen Verhandlungsdelegation, die sich lächelnd und händereibend in unserem Lager mit dem Rebellenchef traf. Geheim natürlich, denn es ging um weitere Waffenlieferungen. Modernstes Kriegsgut, leichte und weniger leichte Waffen aller Art.

      Dazu, so gewissermassen als Weihnachtsgeschenk für die lieben Kleinen, die neusten Tretminen.

      Liefertermin: in sieben Tagen, am 24. Dezember.

      Tag der Bescherung.

      Schöne Bescherung!

      Die Friedensverhandlungen sollen ins Stocken geraten sein, hörten wir am Radio.

      Der UNO Sicherheitsrat verabschiedete eine Resolution.

      Immerhin soll, als Geste des guten Willens, ein siebentägiger Waffenstillstand eingehalten werden. Die Truppen brauchten eine Atempause, um sich neu zu gruppieren.

      Beginn der Waffenruhe: am


Скачать книгу