Elduria - Runa oder das Erwachen. Norbert Wibben
Apfel oder einen kleinen Kuchen. Dazu zählt das Buch über die Insel der Drachen, das Kaytlin Runa zum zehnten Geburtstag geschenkt hatte. Die Wirtin wollte sich mit dieser außergewöhnlichen Gabe für die in fast fünf Jahren geleistete Arbeit des Mädchens bedanken.
Sobald die Kinder in Merion und Elduria dieses Alter erreichen, werden sie als Jugendliche bezeichnet. Sie beginnen ihr erstes Ausbildungsjahr. Die Lehrjahre sind je nach Berufsrichtung unterschiedlich lang, laufen aber in der Regel über drei Jahre. Wenn die erfolgreich abgeschlossen sind, gelten die dann mindestens Dreizehnjährigen als Erwachsene, mit allen Rechten und Pflichten.
Runa hat ihre Schritte automatisch in die Richtung gelenkt, aus der sie fünfjährig nach Homarket gekommen war. Sie vermutet, dass sie in ihrem ehemaligen Heim auf Hinweise stoßen wird, die bei der Suche nach Atropaia helfen werden. Sie überlegt noch einmal kurz, ob sie sich im Rathaus nach dem Aufenthaltsort von Owain erkundigen soll. Was sollte das aber bringen? Sie vermutet inzwischen, dass er ihre Amme in höherem Auftrag gefangen genommen haben wird.
Sie hatte sich vor ihrer Rückkehr von dem Amtsgebäude auf dem Marktplatz bei Umstehenden erkundigt, wer denn dieser Owain ist. Sie erinnert sich, erstaunte Blicke geerntet zu haben.
»Warum willst du das wissen?«, lautete eine leise Gegenfrage.
»Du musst vorsichtig sein. Du hast sicher auch gesehen, dass eine der Zinnen beinahe seinen Sohn getötet hat.« Der zweite Befragte hatte offenbar nicht mitbekommen, dass sie das Leben Brendans gerettet hat. Doch das erwiderte sie nicht.
»Warum sollte es gefährlich sein, sich nach ihm zu erkundigen?«
»Nun ja«, druckste der Mann herum, »nicht jeder mag ihn. Fragen könnten der Beginn zu einem Anschlag wie soeben sein.« Mit diesen unklaren Worten drehte er sich um und hastete davon.
»Wundere dich nicht über ihn«, raunte ihr ein älterer Mann zu. Der musste die Unterhaltung mitbekommen haben, obwohl der andere fast nur geflüstert hatte. »Er wurde bereits mehrfach verhaftet und mit fehlgeschlagenen Attentaten auf Owain in Verbindung gebracht. Seitdem verhält er sich möglichst unauffällig.« Runa schlug sich erschrocken die Hand vor den Mund. Würde sie jetzt doch noch ins Gefängnis geworfen werden? Der Ältere lächelte sie beruhigend an. Er deutete ihre Reaktion richtig. »Keine Sorge. Fast alle hier haben gesehen, dass du diesem arroganten Brendan das Leben gerettet hast. – Sein Vater Owain ist der Anführer der Palastgarde und Oberbefehlshaber der Kriegstruppen von Elduria und Merion. In diese Position stieg er vor sieben Jahren für einen besonderen Dienst auf, den er unserer Herrscherin geleistet hat.« Weitere Fragen stellte das Mädchen vorsichtshalber nicht, auch wenn ihr der freundliche, ältere Mann nicht gefährlich zu sein schien.
Runa will lieber Hinweise in Atropaias Haus suchen, anstatt im Rathaus nachzufragen. Zumal sie nicht einmal weiß, wonach sie sich erkundigen soll. Direkt nach ihrer Amme zu fragen, würde sicher erfolglos bleiben. Sie schüttelt vehement den Kopf und erntet damit einen erstaunten Blick Dragons. Sie schaut ihn an, doch der Junge hält es nicht für nötig, den Grund des Kopfschüttelns zu hinterfragen. Wenn das Mädchen es wichtig findet, wird es ihn schon in seine Gedanken einbeziehen, ist er offenbar überzeugt.
Runa wiederum rätselt über ihren schweigsamen Gefährten. Warum wollte er sie unbedingt begleiten? Sie haben außerhalb der Arbeit keine gemeinsame Zeit verbracht. Wieso meint er dann, dass sie seine Hilfe benötigen könnte? Dabei hatte sie nicht einmal erwähnt, was sie vorhat. Sie weiß es ja selbst nicht genau. Und jetzt läuft er im Gleichschritt neben ihr, den Blick forschend voraus, aber immer wieder zu den Seiten und rückwärtsgerichtet. Das fällt ihr auf, sobald sie die Häuser hinter sich gelassen haben. Sollte er Gefahren vermuten, die dort auf sie lauern könnten? Vereinzelt kommen ihnen Menschen zu Fuß und auch der eine oder andere Reiter entgegen. Besonders dann, wenn die Pferde vorbei sind, dreht sich der Junge häufig nach hinten. Es sieht so aus, als irritierten ihn die leiser werdenden Tritte.
Von Homarket folgt ihnen offensichtlich niemand, obwohl Dragon gerade das zu erwarten scheint. Weshalb sollte das auch geschehen? Runa schreckt zusammen, als er bei einer dieser Aktionen stolpert. Der Junge versucht, sich an ihr festzuhalten, und stößt sie dadurch nach links in den Straßengraben. Er faucht erschrocken, bittet sie aber nicht einmal um Entschuldigung. Sie bemüht sich, in dem hohen Bewuchs des Grabens Halt zu finden, um herauskrabbeln zu können. Unter Schnaufen beschwert sie sich bei ihm.
»Du wolltest mich doch vor Schwierigkeiten bewahren. Mist. Jetzt schau dir nur an, wie ich hier heraufkommen soll.« Sie hält ein dickes Büschel langes Gras in der Hand. Sie hatte es herausgezogen, als sie sich beim Hochklettern daran festzuhalten versuchte.
Doch Dragon reagiert nicht auf sie, schaut nicht einmal zu ihr hinab. Sein Blick ist zum Ort zurück gerichtet.
»HALLO! HIER bin ich. Hilf mir sofort heraus. Ich will mich nur ungern beklagen, aber meine Schuhe werden dem Wasser nicht lange standhalten!« Doch der Junge reagiert immer noch nicht. Er steht etwas vorgebeugt Richtung Homarket und scheint zu lauschen. Runa bemerkt, dass er nickt. Dann macht er einen Satz und landet neben ihr im Graben. Er hat dabei nicht genau achtgegeben oder den Sprung falsch berechnet. Er kommt zu nahe zu dem Mädchen an und versetzt ihm dadurch einen Stoß. Nur mit Mühe kann es verhindern, der Länge nach in den Kanal zu fallen. Obwohl es heute ein sonniger Tag ist, hätte Runas Kleidung viel Zeit benötigt, um wieder zu trocknen. Dadurch wäre ihre Wanderung zum Haus im Wald erheblich verzögert worden. Sie stemmt die Fäuste in die Seiten und blitzt Dragon an. »Bist du immer so tollpatschig? Wenn das ein Versuch werden sollte, mir aus dem Straßengraben zu helfen, mache ich das lieber allein. Du bringst es fertig …« Sie erschrickt. Der Junge zieht sie neben sich an die Böschung und presst eine Hand auf ihre Lippen. Gleichzeitig hält er einen Finger vor seine.
»Pst!«, ist alles, was er sagt. Das Mädchen will protestierend auffahren und ihn zur Rede stellen. Doch die Kräfte des Jungen sind größer als ihre. Er drückt sie rücklings ins hohe Gras. »Gefahr!«, zischt er ihr leise ins Ohr.
Runa fragt sich nicht nur, woher die in der Nähe des Örtchens kommen sollte, sondern auch, woraus er das folgert. Dann erstarrt sie.
»Strauchdiebe?«, flüstert sie, erhält aber keine Antwort. Wenn ihr Begleiter schärfere Augen als sie hat, wen hat er dann wohl gesehen? Sind seine Sinne besser ausgeprägt als ihre? Jetzt hört sie lauter werdenden Hufschlag. Es klingt nach mindestens zwei oder drei Pferden, die sich rasch nähern. Reiter sind für diese Region des Landes nicht ungewöhnlich, obwohl die meisten Menschen zu Fuß gehen. Manche nutzen auch Kutschen, doch die Reise in ihnen kostet so viel wie ein üppiges Essen. Inzwischen lauschen beide angestrengt. Werden die Pferde hier anhalten und die Reiter in den Graben schauen? Sollten sie die Fußgänger verfolgen, könnten sie diese von ihrer erhöhten Position aus dem Sattel bereits von Weitem gesehen haben. Doch Runa kennt keinen Grund, weshalb ihnen jemand auf den Fersen sein könnte. Das Knarren des Ledergeschirrs der Pferde ist jetzt ganz nah und dem Mädchen fällt plötzlich eine Möglichkeit ein.
Sollte die Rettungsaktion für Owains Sohn die Ursache sein? Dann würde sie vermutlich für eine Verbündete eines Attentäters gehalten. Möglicherweise war der nette, ältere Mann sogar ein Spion, der seine Information über ein neugieriges Mädchen unverzüglich ins Rathaus getragen hat. Sie hatte sich nicht mehr umgesehen, als sie den Marktplatz verließ. Das wäre also durchaus möglich!
Runa fragt sich, ob sie jetzt genauso krankhaft misstrauisch wie der andere Mann auf dem Platz wird. Der hatte sich nur vorsichtig geäußert. Falls der Freundliche sie dagegen ausgehorcht haben sollte …?
Dragon nimmt seine Hand von ihrem Mund, fordert aber gleichzeitig durch Gesten, ruhig zu bleiben. Der Hufschlag hat ausgesetzt. Sollten die Reiter schon weiter weg sein? Runa hat nicht genau darauf geachtet. Sie verändert die unbequeme Lage etwas, doch sie bleibt dicht an die Böschung gedrückt. Der Junge nickt ihr zu und deutet mit Zeigefinger und Daumen ein ok an.
Das Mädchen fasst mit ihrer rechten Hand an den linken Unterarm. Dort ist nicht das manchmal auftauchende warme Gefühl, sondern ein kaltes, leicht schmerzhaftes Kribbeln zu spüren. Es gleicht dem Empfinden, wenn tausend Stecknadeln gleichzeitig hineingedrückt werden würden. Wird das durch ihre aktuelle Lage verursacht? Es könnte sein, dass ihr