Elduria - Runa oder das Erwachen. Norbert Wibben

Elduria - Runa oder das Erwachen - Norbert Wibben


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Kälte, oder ist das auszuschließen? Runa legt die Stirn in Falten. Sie weiß nicht, wie sie das sonst erklären sollte. Dragon hat ihre Bewegung genauestens verfolgt. Er hält sich bereit, ihren Mund erneut zu verschließen, falls sie etwas sagen, womöglich sogar schreien möchte.

      »Wo steckt das Mädchen?« Die Frage wird nur leise gestellt, trotzdem hören die zwei in ihrem Versteck sie deutlich. Ein kribbelnder Schauer läuft Runa den Rücken hinab.

      »Ich meinte, vorhin eine Bewegung gesehen zu haben. Das muss genau hier gewesen sein.« Die Stimme kommt von einem anderen Mann.

      »Bist du sicher? Mir ist nichts aufgefallen«, antwortet ein dritter. »Du könntest das auch mit Krähen verwechselt haben. Die suchen überall am Wegrand nach Nahrung. Sie durchwühlen mit Vorliebe die Pferdeäpfel, wie du hinter uns sehen kannst.«

      »Nein, ich irre mich nicht. Lasst uns absteigen und auf beiden Seiten im Graben nachsehen!« Die Pferde schnauben und das Knarren der Sättel verheißt nichts Gutes. Schritte nähern sich. Dragon und Runa drücken sich so tief wie möglich in den Bewuchs der Böschung.

      »Hier sind Spuren im Gras!« Das erklingt nicht von dort, wo sie die Straße verlassen haben, doch höchstens wenige Meter entfernt.

      »In diesem Graben auch!« Die Stimme ist leiser, kommt demnach von der anderen Seite.

      Zeitgleich mit einem Platschen ertönt ein lauter Fluch. Der stammt von einem der Reiter, der das Nass unter dem hohen Gras übersehen hat. Jetzt erklingt das aufgeregte Kreischen eines Fasans, der sich offenbar dort im Grün verborgen hatte. Das ist keine zehn Meter von ihnen entfernt. Gleichzeitig tritt der Vogel seine Flucht nach oben an und landet kurz darauf dicht vor den Versteckten. Das Tier bemerkt sie sofort und flattert erneut erschrocken hoch. Das schön gezeichnete Gefieder schillert in den frühen Sonnenstrahlen und Wassertropfen fallen glitzernd von dessen Füßen herab. Hoffentlich schreibt keiner der Reiter dem Verhalten des Tiers eine größere Bedeutung zu!

      »Hast du jetzt den Grund für deine Beobachtung entdeckt?« Die lachende Stimme gehört dem dritten Mann. Er hat den Sattel offenbar nicht verlassen. Runa stellt überrascht fest, dass die Sprechweise sie an Gwydion erinnert. Der wollte sie nach dem Vorfall vor dem Rathaus in Homarket festnehmen, als sie das Leben Brendans gerettet hatte. Sie weiß wegen ihrer Erkundigungen, dass er Wachtmeister und ein Vertrauter Owains ist. Das seltsame Gefühl, seine Stimme zu kennen, hatte sie bereits vorhin gehabt, jedoch nicht weiter beachtet. Sollten die Reiter unter seiner Leitung nach ihr suchen? »Lasst uns weiterreiten!«, fordert er sofort darauf.

      »Ich hatte recht«, murrt der Mann im Graben und kommt näher. Er will offenbar die Böschung schräg hinaufgehen. Hoffentlich erblickt er die Versteckten nicht zufällig. Doch die Gefahr geht vorüber. Die Sättel knarren, als sich die Reiter hineinschwingen. Sie schnalzen mit der Zunge und die Pferde setzen sich in Bewegung. Der trommelnde Hufschlag des Galopps entfernt sich schnell.

      Runa und Dragon atmen auf. Sie warten vorsichtshalber noch einige Minuten, bevor sie die Böschung hinaufkrabbeln. Erst nachdem sie sich überzeugt haben, dass weit und breit kein Reiter zu sehen ist, richten sie sich erleichtert auf.

      »Danke!« Das Mädchen weiß, nur das feine Gehör des Jungen hat sie davor bewahrt, gefangen zu werden. Es kennt zwar nicht den Grund, weshalb die Reiter nach ihm suchen. Dass sie es tun, ist ohne jeden Zweifel aus dem Gehörten zu folgern.

      Noch bevor die Wanderer den Waldsaum erreichen, zieht dichter Nebel herauf. Runa drängt trotzdem, schneller zu laufen. Auch wenn sie nicht viel sehen können, eine Kutsche oder einen Reiter müssten sie frühzeitig hören. Dann käme ihnen der Dunst sogar zu Hilfe, da sie von Weitem nicht auszumachen sind. Und sie hätten Zeit, sich ein Versteck zu suchen. Das Ereignis mit den Berittenen hat dafür gesorgt, dass das Mädchen die ersten Kilometer mit klopfendem Herzen zurücklegt. In dem Moment, als es sich langsam beruhigt, zieht plötzlich Nebel aus den umliegenden Wiesen auf. Es wirkt auf sie nicht bedrohlich, auch wenn das zu dieser Jahreszeit außergewöhnlich ist. Dragons Verhalten verwirrt sie dagegen mehr. Der Junge bleibt alle paar Schritte stehen und schnüffelt. Warum macht er das? Runa wundert sich. Sie zieht ebenfalls prüfend die Luft ein. Jedoch leise, damit er sich nicht von ihr nachgeahmt und womöglich veralbert fühlt. Aber sie kann nicht die geringste Spur eines Geruchs erkennen. Lediglich die Zusammensetzung irritiert sie. Nebel besteht eigentlich aus Millionen feinster Wassertröpfchen, doch die scheint es nicht zu geben. Der Dunst wirkt seltsam trocken!

      »Was ist los?«, fragt sie. Die Worte flüstert sie nur und wird in ihrem vorsichtigen Verhalten sogleich bestätigt.

      »Zaubernebel!« Dragon hält einen Finger vor den Mund. Als Runa nachfragen will, schüttelt er schnell aber stumm den Kopf. Das Mädchen begreift sofort, es soll nicht sprechen. Dessen Gedanken kreisen umso heftiger.

      Was meint Dragon mit Zaubernebel? Ist der Dunst durch einen Zauber hervorgerufen worden? Weshalb soll sie dann nicht reden? Werden ihre Stimmen nicht wie sonst durch den Nebel gedämpft, sondern bis zu dem Magier getragen, der ihn heraufbeschworen hat? Obwohl ihr Begleiter davon überzeugt zu sein scheint, bezweifelt das Mädchen das. Seit wann existieren denn in diesem Land Zauberer? Die kommen höchsten in Geschichten vor, oder nicht? Runa ist plötzlich unsicher. Sie denkt daran, was in dem Buch »Insel der Drachen« geschrieben steht. Wenn das der Wahrheit entspricht, gibt es überall Magier. Diese sind nicht immer den »normalen« Menschen wohlgesonnen. Manche von ihnen sind böse und streben nach der alleinigen Herrschaft über alle Wesen. Sie fasst für sich den Kern des Buches zusammen, während ihre Schritte unablässig nach vorn gerichtet sind.

      »Auf der Insel lebten ehemals unzählige Drachen. Daher stammte auch ihre Bezeichnung. Die meisten dieser Wesen unterstützten die Elfen im Kampf gegen deren Feinde. In einem ersten Aufstand der Schwarzmagier, das sind böse Zauberer der Menschen, wollten diese die regierenden Königshäuser von Elduria und Merion vernichten. Das schlug fehl, weil die Landesfürsten Unterstützung von den Elfen und mit ihnen verbündeten Drachen bekamen.

      Die bösen Magier konzentrierten daraufhin ihre Bemühungen gegen die Elfen. In den folgenden Auseinandersetzungen wurden viele der eigentlich friedliebenden Wesen getötet. Die Überlebenden zogen sich in Wälder in den verschiedenen Landesteilen zurück, die sie mit Zaubersprüchen vor Feinden schützten.

      Zuvor übertrugen sie Zauberkräfte auf die meisten der Lindwürmer, die die Kämpfe gegen die dunklen Magier überlebt hatten. Sie sollten dadurch in die Lage versetzt werden, erste Angriffe der Schwarzmagier auf die Menschen zurückzuschlagen. Gleichzeitig hatten sie dadurch die Möglichkeit, über Gedankenverbindung Unterstützung durch die Elfen herbeizurufen.

      Doch die ausgewählten Drachen verwandelten sich durch die Magie in deren erbitterte Gegner. Sie griffen sogar die wenigen nichtmagischen Brüder und Schwestern an, die den Elfen wie zuvor beistehen wollten. Der Anführer im nördlichen geheimen Wald vermutete, dass bei der Übertragung der magischen Kräfte etwas schiefgelaufen war. Doch das konnte nicht verhindern, dass sämtliche Drachen der Insel getötet wurden. Und auch von den Elfen sind nicht mehr viele am Leben.«

      Runa hat in dem Buch keine Information darüber gefunden, wo diese Insel liegen soll. Über die Verluste der mit Magie ausgestatteten Lindwürmer wird nichts berichtet. Ob sie möglicherweise alle ausgerottet wurden oder sich auf die Insel zurückgezogen haben? Die Menschen in Homarket haben nie über Zauberer, Elfen und Drachen geredet. Vermutlich liegt das Geschehen schon viele Jahre zurück und ist darum aus ihrem Gedächtnis gelöscht. – Na, wohl nicht ganz. Das kleine Mädchen schien sich unbewusst vor Drachen zu fürchten. Sogar so heftig, dass es den Tod der Eidechse forderte.

      Runa wird unsanft aus ihren Gedanken gerissen. Dragon hatte ihre Hand ergriffen und sie durch den Nebel geführt. Jetzt ist er unerwartet stehengeblieben. Sie stolpert gegen ihn. Nur mit Mühe unterdrückt sie einen Ausruf. Sie erinnert sich sofort an die Geste des Jungen und das Wort Zaubernebel. Doch der ist vor ihnen verschwunden. Der Dunst hat sich verzogen!

      Dragon lächelt sie an und beantwortet ihre unausgesprochene Frage.

      »Dunkle Zauber haben im Elfenwald keine Macht! Gehe nur einen Schritt


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