Doktor Gräsler, Badearzt. Arthur Schnitzler
Im Anfang mühte er sich vergeblich, eine Erklärung für diesen Selbstmord zu finden. Daß das ernste, in Würde alternde Mädchen, mit dem er sich noch während des letzten Mittagsmahls in harmloser Weise über die bevorstehende Abreise unterhalten hatte, mit einem Male verrückt geworden sein sollte, war nicht wahrscheinlich. Näher lag die Annahme, daß Friederike sich schon geraume Zeit, vielleicht jahrelang, mit Selbstmordgedanken getragen und aus irgendeinem Grunde gerade jene ungestörte Nachmittagsstunde für geeignet erachtet hatte, den allmählich gereiften Plan auszuführen. Daß sich unter ihrer gleichmäßig stillen Laune eine linde Schwermut verbergen mochte, war dem Bruder manchmal flüchtig durch den Sinn gegangen, wenn er auch, von Berufspflichten allzusehr in Anspruch genommen, sich nicht weiter darum zu kümmern pflegte. Wirklich heiter, das wurde ihm allerdings erst allmählich bewußt, hatte er sie seit ihrer Kindheit kaum jemals gesehen.
Von ihren Mädchenjahren war ihm wenig bekannt geworden, da er als Schiffsarzt diese Epoche beinahe durchaus auf Reisen verbracht hatte. Als sie endlich vor fünfzehn Jahren, kurz nach des Bruders Austritt aus dem Lloyd, das Vaterhaus in der kleinen Stadt, aus dem die Eltern rasch hintereinander fortgestorben waren, verlassen und sich ihm zugesellt hatte, um ihm als Haushälterin in seine verschiedenen Aufenthaltsorte zu folgen, war sie weit über dreißig Jahre alt gewesen; doch ihre Gestalt hatte so jugendliche Anmut, ihre Augen einen so rätselhaft dunklen Glanz bewahrt, daß es ihr an Huldigungen nicht fehlte und Emil manchmal nicht ohne Grund besorgte, sie könnte ihm von irgendeinem Bewerber in eine späte Ehe entführt werden. Als mit den Jahren auch die letzten Aussichten dieser Art schwanden, schien sie sich wohl ohne Klage in ihr Los zu fügen, doch glaubte sich der Bruder nun manchen stummen Blicks aus ihren Augen zu erinnern, der mit leisem Vorwurf auf ihn gerichtet war, als hätte auch er die Glücklosigkeit ihres Daseins irgendwie mit zu verantworten gehabt. So mochte das Bewußtsein eines verlorenen Lebens mit den Jahren sich immer entschiedener in ihr geltend gemacht haben, je weniger sie sich ausgesprochen, und sie hatte endlich der nagenden Pein einer solchen Erkenntnis ein rasches Ende vorgezogen. Den ahnungslosen Bruder hatte sie hierdurch freilich in die Notwendigkeit versetzt, sich in einer Lebensperiode, die neuen Gewöhnungen im allgemeinen abhold zu sein pflegt, um Angelegenheiten des Haushaltes und der Wirtschaft zu kümmern, was ihm bisher durch Friederikens Fürsorge erspart geblieben war; und in den letzten Tagen der Schiffsreise, unbeschadet aller Trauer, zog ein kühles, aber irgendwie tröstliches Gefühl der Entfremdung gegenüber der Dahingeschiedenen in sein Herz, die ihn ohne Abschied und völlig unvorbereitet auf Erden allein gelassen hatte.
2
Nach einem kurzen Aufenthalt in Berlin, wo er sich bei einer Anzahl klinischer Professoren für die beginnende Kurzeit in Erinnerung brachte, traf Doktor Gräsler an einem schönen Maitag in dem kleinen, hügelwaldumgebenen Badestädtchen ein, wo er seit nun sechs Jahren im Sommer die ärztliche Praxis auszuüben pflegte. Er wurde von der Hauswirtin, einer ältlichen Kaufmannswitwe, mit herzlicher Teilnahme begrüßt und freute sich der bescheidenen Feldblumen, mit denen sie die Wohnung zu seinem Empfang geschmückt hatte. Das kleine Zimmer, das im vorigen Jahre seine Schwester bewohnt hatte, betrat er nicht ohne Scheu, doch fand er sich nicht so tief ergriffen, als er eigentlich gefürchtet hatte. Im übrigen ließ das Leben sich gleich im Anfang ganz leidlich an. Der Himmel war von gleichmäßig milder Klarheit, die Luft frühlingshaft lau; und manchmal, zum Beispiel beim Frühstück auf seinem kleinen Balkon, wo auf reinlich gedecktem Tisch die weiße blaugeblümte Kanne, aus der er sich nun freilich den Kaffee selbst in die Tasse eingießen mußte, in der Morgensonne glänzte, kam ein Gefühl von Behaglichkeit über ihn, wie es ihm in Gesellschaft seiner Schwester, zum mindesten in den letzten Jahren, nicht mehr geworden war. Die anderen Mahlzeiten nahm er in dem stattlichen Hauptgasthof des Ortes in Gesellschaft einiger ihm von früher her bekannter, achtungswerter Bürger, mit denen sichs zwanglos und manchmal recht unterhaltsam plaudern ließ. Die Praxis aber setzte gleich recht vielversprechend ein, ohne daß Fälle von besonderer Schwere sein ärztliches Verantwortungsgefühl allzusehr belastet hätten.
So ging der Frühsommer ohne bemerkenswerte Ereignisse dahin, als an einem Juliabend, nach einem ziemlich arbeitsreichen Tage, Doktor Gräsler durch einen Boten, der sich eiligst wieder entfernte, in das Forsthaus gerufen wurde, das eine gute Wagenstunde von dem Städtchen entfernt lag. Der Doktor war hiervon wenig erfreut, wie er überhaupt für ortsansässige Kranke, deren Behandlung weder viel Ruhm, noch viel Gewinn zu bringen pflegte, keinerlei Vorliebe hegte. Doch als er, eine gute Zigarre rauchend, in der milden Abendluft die liebliche Straße zwischen hübschen Landhäusern, dann zwischen gelben Feldern im kühlen Hügelschatten und endlich durch den hohen Buchenwald talaufwärts fuhr, ward ihm behaglicher zumute; und als er gar des Forsthauses ansichtig wurde, dessen anmutvolle Lage ihm von Spaziergängen vergangener Jahre her in guter Erinnerung stand, bedauerte er beinahe, daß die Fahrt so schnell vorüber war. Er ließ den Wagen am Straßenrand halten und ging den schmalen Wiesenweg zwischen jungen Tannen dem Hause zu, das mit blinkenden Fenstern, ein ungeheures Geweih über der schmalen Eingangstür, die Abendsonne auf dem rötlichen Dach, ihm freundlich entgegengrüßte. Über die Holzstufen der im Verhältnis zum Hause auffallend geräumigen Seitenterrasse kam dem Doktor eine junge Dame entgegen, die ihm gleich auf den ersten Blick bekannt erschien. Sie reichte ihm die Hand und berichtete, daß ihre Mutter an Magenbeschwerden erkrankt sei. »Nun schläft sie schon seit einer Stunde ganz ruhig,« erzählte sie weiter. »Das Fieber ist offenbar zurückgegangen. Um vier Uhr nachmittags war es noch achtunddreißig vier Zehntel. Und da sie sich schon seit gestern Abend elend fühlt, habe ich mir erlaubt, Sie herzubitten, Herr Doktor. Es wird hoffentlich nichts sein.« Dabei sah sie ihm bescheiden bittend ins Auge, als hinge die weitere Entwicklung des Falles von seiner Entscheidung ab.
Er erwiderte ihren Blick mit angemessenem, aber mildem Ernst. Freilich kannte er sie. Schon manchmal war er ihr im Städtchen begegnet, doch hatte er sie für einen Sommergast gehalten. »Nun, wenn Ihre Frau Mama jetzt ruhig schläft,« sagte er, »wird es wohl nichts Schlimmes sein. Vielleicht sagen Sie mir noch etwas Näheres, Fräulein, ehe wir die Kranke am Ende ganz überflüssigerweise aufwecken.« Sie lud ihn ein, weiterzuspazieren, ging ihm voraus auf die Veranda und bot ihm einen Stuhl an, während sie an dem Pfosten der offenen, ins Innere des Hauses führenden Tür stehenblieb. In strenger Sachlichkeit gab sie eine Darstellung des bisherigen Krankheitsverlaufes, der für Doktor Gräsler keinen Zweifel übrig ließ, daß es sich hier um nichts anderes handeln könne, als um eine vorübergehende Magenverstimmung. Immerhin war er genötigt, allerlei medizinische Fragen an die junge Dame zu richten, wurde durch die höchst unbefangene Art überrascht, mit der sie natürliche Vorgänge mit einer Unbedenklichkeit, wie er sie von Mädchenlippen nicht gewohnt war, mitteilte und erläuterte, und fragte sich flüchtig während des Zuhörens, ob sie sich wohl einem jüngeren Arzt gegenüber mit der gleichen Unbefangenheit ausgedrückt hätte. Sie selbst mochte seiner Schätzung nach kaum weniger als fünfundzwanzig Jahre zählen, wenn es nicht etwa die großen, ruhigen Augen waren, die ihrem Antlitz den Ausdruck höherer Reife verliehen. In den blonden, hochgesteckten Zöpfen trug sie einen unverzierten Silberkamm. Ihre Kleidung war einfach, aber durchaus ländlich, der weiße Gürtel durch eine zierlich vergoldete Schnalle verschlossen. Was dem Doktor am meisten auffiel, ja irgendwie verdächtig erschien, wären die höchst eleganten hellbraunen Halbschuhe aus Wildleder, die genau zur Farbe der Strümpfe gestimmt waren.
Doch sie war noch nicht mit ihrem Bericht und Doktor Gräsler noch nicht mit seinen Betrachtungen zu Ende, als es aus dem Innern des Hauses »Sabine« rief. Der Doktor erhob sich, das junge Mädchen wies ihm den Weg durch das geräumige, schon halbdunkel gewordene Speisezimmer in das nächste, hellere, wo in einem der beiden Betten, eine weiße Haube auf dem Kopfe, in einer weißen Nachtjacke, die Kranke aufrecht saß, und dem Eintretenden mit etwas erstaunten, im übrigen aber ganz frischen, beinahe lustigen Augen entgegenschaute.
»Herr Doktor Gräsler,« stellte Sabine vor und trat rasch an das Kopfende des Bettes, die Stirn der Mutter zärtlich mit der Hand berührend.
Die Frau, die nicht alt, sehr wohlgenährt und freundlich aussah, schüttelte mißbilligend das Haupt. »Sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, Herr Doktor,« sagte sie, »aber wozu liebes Kind –«
»Es scheint ja wirklich,« bemerkte der