Doktor Gräsler, Badearzt. Arthur Schnitzler
mit Begeisterung erwählt, dessen er sich aber gewiß nicht stets auf gleiche Weise innerlich wert erwiesen hatte.
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Als Doktor Gräsler am nächsten Tag die Tür zu seinem Wartezimmer öffnete, sah er zu seiner Verwunderung unter anderen Patienten Herrn Schleheim sitzen, der als Ersterschienener dem Arzte sofort in den Sprechraum folgte. Der Sänger stellte vorerst die Forderung, daß die Familie niemals von seinem Besuch erfahren dürfte, und war nach erhaltenem Versprechen ohne weiteres bereit, seine Beschwerden vorzutragen und sich einer Untersuchung zu unterziehen. Doktor Gräsler vermochte kein ernstliches körperliches Leiden zu entdecken, doch war eine tiefere seelische Verstimmung unverkennbar, wie sie bei einem Mann nicht überraschend erschien, der in seinen besten Jahren gezwungen war, einen äußerlich glänzenden Beruf aufzugeben, für den er weder in seiner Häuslichkeit und in der Liebe zu den Seinen, noch in eignem inneren Reichtum genügenden Ersatz zu finden verstand. Daß er sich mit jemandem einmal gründlich aussprechen durfte, tat ihm sichtlich wohl. Und so nahm er es gern an, als der Doktor, der erklärte, ihn überhaupt nicht als Patienten betrachten zu können, scherzhaft gewandt um die Erlaubnis ersuchte, bei gelegentlichen Spaziergängen im Forsthaus einsprechen und dort mit ihm plaudern zu dürfen.
Als er nächsten Sonntag vormittag von dieser Erlaubnis Gebrauch machte, traf er den Sänger vorerst allein an, der ihm sofort mitteilte, daß er es doch für klüger gehalten habe, die »Familie«, wie er sich immer zusammenfassend ausdrückte,von der stattgehabten Untersuchung und von deren günstigem Ausgang zu unterrichten, schon um die besorgten Mienen, die ihm widerwärtig seien, nicht mehr sehen und das langweilige Gerede, das ihn zur Verzweiflung bringe, nicht mehr hören zu müssen. Als der Arzt daraufhin die freilich übertriebene, aber dabei doch rührende Besorgnis der Kinder zu rühmen sich anschickte, stimmte der Vater leicht zu und erklärte, an ihnen überhaupt nichts anderes aussetzen zu wollen, als daß sie eben gar so gute und brave Menschen seien. »Darum,« setzte er hinzu, »werden sie beide nicht viel vom Leben haben; wahrscheinlich werden sie es nicht einmal kennen lernen.« Und in seinem Auge schimmerte eine blasse Erinnerung von fernen und verruchten Abenteuern.
Sie hatten nur eine kurze Weile auf der Bank vor der Eingangstür gesessen, als die übrigen Mitglieder der Familie Schleheim herankamen, alle etwas sonntagsmäßig angetan und gerade dadurch kleinbürgerlicher aussehend als sonst. Sabine, die sich dessen bewußt zu sein schien, nahm gleich den bewimpelten Hut ab und strich sich dann wie beruhigt über ihre schlichte Frisur. Der Doktor wurde über Mittag hiergehalten; das Gespräch bei Tische hielt sich durchaus an der Oberfläche der Dinge, und als die Rede darauf kam, daß der Leiter einer dem Badestädtchen ganz nahe gelegenen Heilanstalt sich mit Rücktrittsabsichten trage, fragte die Mutter den Gast beiläufig, ob ihn denn eine solche Stellung nicht lockte, wo ihm vielleicht Gelegenheit geboten würde, seine berühmten Hungerkuren systematisch anzuwenden. Nachdem Gräsler den Scherz lächelnd abgewehrt hatte, bemerkte er, daß er sich zu einer Stellung solcher Art bisher niemals habe entschließen können. »Ich kann auf das Bewußtsein meiner Freiheit nicht verzichten,« sagte er, »und wenn ich auch schon ein halbes dutzendmal hintereinander da unten im Ort praktiziert habe und aller Wahrscheinlichkeit nach in den nächsten Jahren wiederkommen werde, jeder Zwang würde mir die Freude an dieser Gegend, ja an meinem Berufe überhaupt erheblich stören.«
Sabine schien durch ein kaum merkliches Neigen des Kopfes ihr Verständnis für diese Auffassung ausdrücken zu wollen. Im übrigen zeigte sie sich über die Verhältnisse der Heilanstalt gut unterrichtet und erklärte sie insbesondere für viel ertragsfähiger, als sie sich unter dem derzeitigen, alten und nachlässig gewordenen Direktor in der letzten Zeit erwiesen hätte. Auch sprach sie die Meinung aus, daß für jeden Arzt die Wirksamkeit an einer Heilanstalt schon darum sehr wünschenswert sein müßte, weil nur da die Bedingungen zu einer wirklich dauernden Beziehung zwischen Arzt und Kranken und damit auch die Gelegenheit zur Anwendung von verläßlichen, weil stets kontrollierbaren Heilmethoden gegeben seien.
»Das hat freilich viel für sich,« meinte Doktor Gräsler mit jener Zurückhaltung im Ton, die er als Fachmann in diesem Kreise für angemessen hielt. Dies entging Sabine nicht, und sie bemerkte rasch und leicht errötend: »Ich habe nämlich eine Zeitlang in Berlin Krankenpflege getrieben.«
»Wahrhaftig!« rief der Doktor aus und wußte nicht gleich, wie er sich dieser Eröffnung gegenüber verhalten sollte. Und er bemerkte allgemein: »Ein schöner, ein edler Beruf. Aber düster und schwer! Und ich begreife wohl, daß es Sie bald wieder nach Hause in die heimatliche Waldesluft gezogen hat!«
Sabine schwieg, auch die anderen blieben stumm. Doktor Gräsler aber ahnte, daß man nun hart an der Stelle vorgekommen war, wo das bescheidene Rätsel von Sabinens Dasein verborgen liegen mochte.
Nach dem Essen bestand Karl auf einer Dominopartie im Garten wie auf seinem verbrieften Recht. Der Doktor wurde aufgefordert, mitzutun; und bald, während die Mutter, auf einem bequemen Sessel unter den Tannen hingestreckt, über der mitgenommenen Handarbeit allmählich einschlummerte, war das Spiel harmlos klappernd im Gange. Doktor Gräsler erinnerte sich gewisser trübseliger Sonntagnachmittagsstunden aus den vergangenen Jahren an seiner schwermütigen Schwester Seite; er schien sich einer düstern, lastenden Epoche seines Lebens wundersam entronnen; und wenn Sabine, seine Zerstreutheit gewahrend, ihn durch einen lächelnden Blick oder gar durch eine leichte Berührung seines Armes ermahnte, die Steine weiter anzusetzen, so fühlte er von solcher Vertraulichkeit sich zu einer unbestimmten milden Hoffnung angerührt.
Das Spiel wurde abgeräumt, ein geblümtes Tuch über den Tisch gebreitet; und da ein Wagen heute nicht zu beschaffen war, so blieb dem Doktor eben nur noch Zeit, rasch eine Tasse Kaffee mit den andern zu trinken, wenn er seine Kranken, die ihn natürlich auch Sonntags nicht entbehren konnten, noch vor dem späten Abend besuchen wollte. Er nahm die Erinnerung an ein Lächeln und an einen Händedruck Sabinens mit sich, deren beglückendes Nachgefühl ihn auch auf noch staubigerer und heißerer Landstraße Langeweile und Beschwerde kaum hätte empfinden lassen.
Trotzdem hielt er es für richtig, eine Zeit hingehen zu lassen, ehe er sich im Forsthaus wieder sehen ließ. Es wurde ihm leichter, als er gedacht, da sein Beruf ihn auch innerlich wieder zu beschäftigen begann. Er führte nicht nur die Krankengeschichten seiner Patienten auf das sorgfältigste, sondern war auch bemüht, die allmählich entstandenen Lücken seines theoretischen Wissens durch das Studium medizinischer Werke und Zeitschriften so sehr als möglich auszufüllen. Aber wenn er sich auch klar darüber war, daß all dies auf die Wirkung von Sabinens Persönlichkeit zurückzuführen sei, so wehrte er sich doch weiter dagegen, eine ernstliche Hoffnung auf den Besitz des jungen Mädchens in sich aufkommen zu lassen; und selbst wenn er ganz leicht, im Spiel der Gedanken, die Möglichkeit einer Werbung erwog und nun den weiteren Verlauf eines mit Sabinen gemeinsamen Schicksals innerlich zu verfolgen suchte, so erschien ihm ungerufen die in diesem Zusammenhang höchst unliebsame Gestalt des Hoteldirektors auf Lanzarote, wie er den ältlichen Doktor und dessen junge Frau mit einem impertinenten Lächeln an der Türe des Hotels empfing; und diese Erscheinung zeigte sich so regelmäßig, als wäre Lanzarote der einzige Ort, an dem Gräsler im Winter seine Praxis ausüben, und als wäre der Direktor der einzige lebende Mensch, der sein junges Eheglück gefährden könnte.
Gegen Ende der Woche einmal begegnete Gräsler Sabinen vormittags im Städtchen, wo sie Einkäufe zu besorgen hatte. Sie fragte ihn, warum er sich so lange nicht sehen ließe. »Es kommen so wenig Menschen zu uns,« sagte sie, »und mit wenigen läßt sich was Gescheites reden. Das nächste Mal müssen Sie uns auch mehr aus Ihrem Leben erzählen. Man möchte doch auch was von all den Dingen zu hören bekommen!« Ihre Augen erglänzten in milder Sehnsucht.
»Wenn Sie glauben, Fräulein Sabine, daß das Leben draußen in der Welt soviel Interessantes zu bieten hat, wie kommt's nur, daß Sie hier so in der Stille sitzen?«
»Es wird vielleicht nicht immer so bleiben,« erwiderte sie einfach. »Und es war ja einmal schon ein wenig anders. Im übrigen wünsche ich mir's für die Gegenwart kaum besser, als ich's habe.« Und die Sehnsucht in ihren Augen war verglommen.
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