Indische Reisen. Ludwig Witzani

Indische Reisen - Ludwig Witzani


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vor den Tiefen des Urozeans. Als Löwe erschlug er sodann in seiner vierten Inkarnation die Dämonen, die die Welt bedrohten, um schließlich als Zwerg, der ins Unermessliche wachsen konnte, die Erde auszumessen und einzuteilen. Inzwischen war auch das Menschengeschlecht auf der Erde erschienen und mit ihm das Laster, sodass Vishnu in seiner sechsten Inkarnation als „Mann mit der Axt“ zum Schrecken der Verbrecher wurde. In seiner siebten Inkarnation erschien Vishnu schließlich in Ayodhya, und zwar in Gestalt Lord Ramas, der beispielgebenden Figur der altindischen Kultur. Deswegen ist Ayodhya Lord Ramas Stadt.

      Davon konnte sich jeder überzeugen, der auch nur wenige Schritte abseits der Hauptstraße durch die Pilgerviertel schlenderte. Überall standen lebensgroße Skulpuren von Lord Rama, und auf den großen Bildern wurden Szenen und Motive seines Lebens in grellen Farben dargestellt: Rama mit seinem gewaltigen Bogen, Rama, der seinen Helfer Hanuman umarmt, Rama und seine Gattin Sita, Rama mit seinem tiaraartigen Helm. Die penetrante Allgegenwart des Gottes an jeder Ecke und Bude hatte etwas Beunruhigendes, ebenso wie die krasse Ärmlichkeit der Pilger, die durch die Gassen gingen.

      Ayodhya war ein durch und durch innerindisches Pilgerzentrum. Nichts an seiner Erscheinung gehorchte ästethetischen Rücksichten, die Stadt war authentisch bis zu Schmerzgrenze, nur auf sich selbst bezogen und sich selbst genug. Die Verstümmelungen des Leprakranken an der Ecke, die Eiterwunden der bettelnden Kinder, die Glasknochen des Yogis, der unbeweglich in der Sonne saß, verdeutlichen eine Grunderfahrung der indischen Wirklichkeit: das Leben war ein Tal des Leidens, und nur in der Entsagung konnte es Erlösung geben.

      Auch Lord Rama hatte in seiner irdischen Existenz viel leiden müssen – aber nicht nur. Denn Rama aber wäre nicht die Inkarnation Vishnus, die neben Krishna die höchste Verehrung genießt, wenn sich seine Wesenszüge nur im Leiden erschöpfen würden. Rama ist nicht Buddha, hatte mir einmal ein Inder erklärt. Wer ihm etwas nimmt, dem zieht er die Ohren lang.

      Für den gläubigen Hindu wurde Rama vor undenklichen Zeiten als Sohn des Königs von Ayodhya in Nordindien geboren. Schon als Prinz stach er unter seinen Brüder durch Tapferkeit, Kraft, Wohlgestalt und Charakter hervor, lauter Eigenschaften, die dazu beitrugen, dass er die schöne Sita zur Frau gewann. Infolge einer Intrige am Hofe seines Vaters musste Rama allerdings mit seiner Frau Sita in die Verbannung gehen, in der er unerhörte Heldentaten beging, bevor ihm der Dämon Ravana seine Frau Sita raubte. Unterstützt vom Affenkönig Sugriva und seinem Minister Hanuman verfolgte Rama den Ravana bis nach Sri Lanka, wo es ihm gelang, seinen Widersacher zu töten und seine Gattin Sita zu befreien. Diese Geschichte mit ihren kaum überschaubaren Einzelheiten und Nebenhandlungen gehört als „Ramayana“-Epos mit weit über 20.000 Zeilen zum Kernbestand der hinduistischen Kultur. Redlichkeit und Treue, Verlust und Wiedergewinn, Gerechtigkeit und Schuld, Entsagung und Reue – ein ganzer Kosmos ethischer Verhaltensweisen wird dem heranwachsenden Hindu anhand der Geschichten aus dem Ramayana-Epos als vorbildliches Verhalten vorgeführt.

      So konnte es nicht ausbleiben, dass die Ramaverehrung mit einem kämpferischen Islam in Konflikt geriet, der seit dem 13. Jahrhundert immer größere Teile Indiens eroberte und für den die Hindugötter nichts weiter waren als widerliche Götzen, die es zur Ehre Gottes von der Erde auszutilgen galt. Die damit verbundene Gewaltanwendung und Zerstörung Hunderter hinduistischer Verehrungsstädten im ganzen Land hatte das Verhältnis von Islam und Hinduismus dauerhaft zerrüttet - doch nirgendwo hat der Konflikt eine derartige Intensität angenommen wie in Ayodhya. Lord Ramas Stadt ist zum Kristallisationspunkt eines gesamtindischen Religionskonfliktes geworden, der das Land zu zerreißen droht.

      Die Ursprünge des Konfliktes reichten bis in das Jahr 1528 zurück, als der erste Großmogul Babur im Pilgerviertel von Ayodhya die Babri-Moschee errichteten ließ, ein Gotteshaus, das im Schatten des hinduistischen Pilgerbetriebes verblieb und nur wenig genutzt wurde. Obwohl immer wieder behauptet wurde, diese Moschee sei auf den Trümmern eines älteren Ramatempels und genau an dem Ort errichtet worden, an dem Lord Rama geboren worden war, blieben die Verhältnisse in Ayodhya unter der britischen Kolonialherrschaft jahrhundertelang ruhig und unaufgeregt.

      Wirklich virulent wurde der Konflikte von heute aus betrachtet unmittelbar nach der indischen Unabhängigkeit durch das so genannte „Wunder von Ayodhya“, das sich am 22. Dezember 1949 ereignet haben soll. Umgeben von einer glühenden Aureole soll sich Lord Rama vor den Augen der Gläubigen in das Innere der Babri-Moschee von Ayodhya begeben und sich dort niedergelassen haben. Der damalige indische Ministerpräsident Nehru reagierte sofort und tat das einzig Richtige: Ehe sich die allgemeine Hysterie unter Hindus und Moslems voll entfalten konnte, ließ er die Moschee besetzen und sie für Moslems und Hindus gleichermaßen sperren.

      Damit aber war das Problem in der Welt – die Hindus beklagten, das Lord Rama in einer Art Käfig in der Moschee gefangen sei und befreit werden müsse, die Moslems forderten die Räumung und Instandsetzung der besetzten Moschee, die von Jahr zu Jahr mehr verfiel. Und tatsächlich spross bald auf dem Moscheevorhof das Gras aus den Fugen, und die Risse im Gemäuer wurden immer bedrohlicher.

      Trotzdem eskalierte der Konflikt zunächst nicht weiter. In der Fähigkeit, in unmöglichen Zuständen auf Dauer zu leben, macht dem Inder so schnell niemand etwas vor, und tatsächlich blieb es in Ayodhya fast dreißig Jahre lang relativ ruhig. Erst mit dem Erstarken des Hindunationalismus in den Achtzigerjahren des letzten Jahrhunderts erreichte der Konflikt die nächste Eskalationsstufe. Auf der Kumbh Mela von Allahabad im Jahre 1989, an der Millionen Hindus aus allen Teilen der indischen Welt teilnahmen, veröffentlichte der Weltrat der Hindus eine Liste von nicht weniger als 150 Moscheen, die allesamt auf den Ruinen zerstörter Hindutempel erbaut worden wären und die es folglich ihrerseits wieder abzureißen gelte. An erster Stelle auf dieser Liste stand die Babri-Moschee von Ayodhya mit der Begründung, dass sich genau an der Stelle, an der die Babri- Moschee errichtet worden sei, sich nicht nur ein älterer Ramatempel, sondern sogar der Geburtsort Lord Ramas lokalisieren ließe. In das Gesamtbild eines sich immer weiter verschärfenden Gegensatzes gehörte übrigens auch das herausragende Medienereignis des Jahres 1989: die landesweite Ausstrahlung einer erfolgreichen Fernsehbearbeitung des Ramayana-Epos, die von über 200 Millionen Menschen gesehen wurde.

      So kochten die Emotionen auf beiden Seiten hoch, doch es war keine Lösung in Sicht. Ein Gerichtsverfahren folgte dem nächsten, und als ein Gerichtsurteil im Jahre 1992 endgültig entschied, dass alles beim Alten bleiben und die inzwischen fast verwaiste Moschee nicht abgerissen werden sollte, kam es zum Eklat. Ein schon vorher aus allen Teilen des Landes herangekarrter Hindumob stürmte am 6. Dezember 1992 die Moschee, schlug sie in kürzester Zeit kurz und klein und errichtete auf ihren Trümmern in aller Eile einen provisorischen Schrein, der als Ram-Janmabhumi-Tempel bezeichnet und nun ebenfalls als sakrosant erklärt wurde.

      Damit war Indiens offene Wunde wieder aufgerissen. Obwohl in Ayodhya das Gelände der geschändeten Moschee sofort von einem großen Armeeaufgebot besetzt wurde, um alle weiteren Veränderungen des status quo zu verhindern, brachen unmittelbar nach der Stürmung der Moschee bürgerkriegsähnliche Unruhen im ganzen Land aus. Angeheizt von den Parolen verantwortungsloser Demagogen auf beiden Seiten gingen sich Moslems und Hindus an die Kehle, und Tausende Tote, vor allem in Maharashtra und Gujarat, waren die Folge.

      Wie aber sollte es weitergehen? Niemals würden die über einhundertfünfzig Millionen Moslems in Indien dulden, dass auf den Ruinen einer mutwillig zerstörten Moschee ein Hindutempel errichtet werden würde. Ebenso wenig aber wollten die Hindus zulassen, dass der gerade erst etablierte Ramaschrein wieder abgebaut würde. Wie eine heiße Kartoffel wurde der Streitfall von Gericht zu Gericht gereicht, während die Armee ihre Präsenz an den Ruinen der Babri-Moschee immer mehr ausbaute. Schließlich erging das Urteil, dass der Ramatempel auf dem Gelände der zerstörten Moschee erbaut werden sollte, wenn der unzweifelhafte Nachweis gelänge, dass vor 1528 an der Stelle der Babri-Moschee auch tatsächlich ein Ramatempel gestanden hätte. Dieser Nachweis konnte nicht zwingend erbracht werden. Fundamentalistische Überzeugung und wissenschaftlicher Nachweis waren nicht zur Deckung zu bringen.

      Seitdem gilt der ehemalige Moscheebezirk von Ayodhya als Indiens heikelster Platz, und ein Besuch auf dem Gelände der zerstörten Babri-Moschee lehrt mehr über die innerindischen Religionskonflikte als ein Dutzend Seminare. Es handelt sich allerdings um eine Sehenswürdigkeit der besonderen Art, um die alle großen Fernreiseanbieter


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