Zwielicht Classic 12. Michael Schmidt

Zwielicht Classic 12 - Michael Schmidt


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Minuten später spritzen die Reifen meines Wagens Schotter auf. Die Lichtfinger der Scheinwerfer setzen die Front der alten Jagdhütte ins Rampenlicht wie eine Theaterbühne. Schwermütig denke ich an bessere Zeiten zurück. Als Vater uns hier mit rauf gebracht hatte. Die langen Wanderungen. Unbeschwertheit.

      Nichts davon ist übrig geblieben.

      Ich warte. Auf meinem Schoß thront ein Baseballschläger. Irgendwie kommt er mir lächerlich vor.

      Aus einer Minute werden zwei, dann vier. Nach der fünften steige ich aus. Langsam. Gott, habe ich Angst. Hier draußen gibt es nur das Rauschen des Windes, einen Klang, der mich auf einmal bis ins Mark ängstigt. Wie die Dunkelheit. Das Unbekannte.

      Ich nähere mich der Hütte, den Schläger über mich erhoben. Sogar das Schlucken fällt mir schwer. Mein Körper zerschneidet einen Lichtfinger. Vor den Stufen, die rauf zur Veranda führen, bleibe ich stehen. Sammle Kraft und Speichel. Schließlich: „Alex?“ Ich spreche den Namen meines Bruders ganz leise aus. Zaghaft. Erhalte keine Antwort. Nach einem Moment des Abwartens will ich den Vorgang wiederholen, als hinter mir ein rasches Stakkato ertönt: Tapp-Tapp-Tapp.

      Wie Schritte. Begleitet von einem altbekannten Geruch, teils erdig, teils modrig.

      Ich wirble herum.

      Nichts. Jedenfalls auf den ersten Blick. Wäre da nicht dieser feuchte Abdruck auf der Motorhaube –

      Taptaptap.

      Ich wende mich wieder der Hütte zu – und etwas Klammes, Feuchtes legt sich um meinen Hals. Meine Augen weiten sich. Nicht nur wegen des Atemmangels. Es liegt auch am Schock, erkennen zu müssen, dass die fleischige, unnatürliche lange, peitschenartige Zunge zu einem Körper gehört, der vage an einen riesigen Frosch erinnert. Oder eine Kröte. Bis auf den Unterschied, dass dieses Reptil die Züge meines Bruders besitzt!

      Ich werde nach vorne gerissen. Lande hart auf dem Kies. Der Schläger entgleitet meinen Fingern. Das Alex-Ding gönnt mir keine Ruhepause. Unvermittelt werde ich wieder in die Höhe gerissen. Schreiend und hilflos segle ich durch die Luft, bevor ich durch das Fenster stürze; begleitet von einer Glaskaskade, die zahlreiche Schnitte hinterlässt. Erst der staubige Holzboden beendet meinen Flug. Kraftlos robbe ich davon. Furcht und Grauen sind dem Selbsterhaltungstrieb gewichen. Doch wie kann ich mich gegen jene Kreatur erwehren, die mein Bruder geworden ist? Gegen eine riesige Kröte, ausgestattet mit einer Peitschenzunge und unmenschlichem Aggressionspotenzial?

      Hinter mir wird die Tür aufgerissen. Meine Nackensehnen quietschen, als ich den Kopf dorthin bewege. Die fahle Helligkeit der Scheinwerfer setzt die Kreatur mit grotesker Deutlichkeit ins Licht. Klobige Füße patschen. Sie enden in bizarr gedehnten Fortsätzen, die irgendwann einmal Zehen waren. Verbunden durch feine Membranen: Schwimmhäute. Das Alex-Ding packt mich mit seinen Krallen, bis ich in seine pupillenlosen Onyxaugen starre. So kalt wie der restliche Körper. Das breite Maul klappt auseinander. Offenbart feine, spitze Zähne. Ein Geruch von Verwesung strömt mir entgegen. Ungewollt mustere ich den restlichen Körper. Die schuppige, fleckige, feucht-schleimige Haut. Wie vergorene Hefe. Der – wieder haarlose – Kopf wird von einem dunklen Band durchzogen. Wie ein aufgemalter Irokese, überkommt es mich. Die Kiemen an seinem Hals flattern aufgeregt. Schleimige Blasen blühen aus den beiden Atemlöchern. Die hellen, aufrecht stehenden Stacheln an seiner Seite beben ebenfalls. Ein Haarfrosch! gellt es durch meinen Verstand. Ich weiß nicht, ob ich lachen oder schreien soll.

      „… gönnst es mir nicht …“, gurgelt das Alex-Ding. „Bist … noch immer … neidisch!“

      Abermals werde ich von den Füßen gerissen. Wie ein Geschoss zerschneide ich die Luft, bevor mich ein alter Holzschrank aufhält. Ich beiße mir auf die Zunge, spucke Blut. Direkt neben mir plumpst etwas zu Boden. Der Aufprall hat die Oberseite aufgerissen. Eine weiße Substanz hat sich verteilt. Ist das Mehl?

      Dann erkenne ich verschwommen die helle Schrift auf der Verpackung – und mein Selbsterhaltungstrieb kommt auf eine Idee.

      Ein breitschultriger Schatten legt sich über mich. Das Alex-Ding scheint mich zu verspotten, mich höhnisch auszulachen. Aus seinem Maul kommt ein sonores, zutiefst hasserfülltes Unken. Es beugt sich vor. Streckt die muskulösen Krallenarme nach mir aus. Ich hebe den Beutel. Eine Herkulesaufgabe. Jede Körperzelle kreischt, dann kreische ich. Mit geschlossenen Augen schütte ich der Kreatur den Inhalt entgegen.

      Das Bleichmittel leistet ganze Arbeit. Seine ungezügelte Gier ist unaufhaltsam. Das graue Fleisch zischt wie zerlassene Butter in der Pfanne, als es aufgefressen wird. Widerliche graue Blasen entstehen, zerplatzen inmitten träger Rauchschwaden. Das Alex-Ding zuckt und windet sich als stünde es unter Strom. Die Krallenhände versuchen Schmerz und Verstümmelung abzuwenden, richten dabei aber nur größeres Unheil an. Fassungslos verfolge ich, wie blubbernde graue Lappen und Brocken aus dem Krötenantlitz gerissen werden und wie feuchte, nutzlose Schwarten auf den Boden klatschen. Zitternd wie nie zuvor robbe ich außer Reichweite, dennoch ist es mir unmöglich, mich abzuwenden. Schleimige Hautpartien werden zerteilt und lösen sich wie Melasse, als das Alex-Ding ein ohrenbetäubendes, markerschütterndes, grauenvolles Kreischen anstimmt; jenseits sämtlicher bekannter Tonlagen, wie mir erscheint. Die flachen, bizarren Füße trommeln; dominiert vom unnatürlich großen Fersenhöcker.

      Dann ist es vorbei.

      Das Alex-Ding erschlafft. Zeitlupenartig kippt der Körper nach hinten. Kraftlos rollen die Fragmente des Schädels zur Seite. Ich kann mich nicht bewegen. Bin versteinert – besonders, als mich Alex’ verbliebenes Auge fixiert und bis zum tiefsten Punkt meiner Seele vorzudringen scheint.

      „Anni“, ist das letzte Wort, dass er von sich gibt, ehe die Kiemen ein letztes Mal zittern.

      Schließlich ist es vorbei – und doch nicht.

      Ich empfinde keine Genugtuung, als der schlichte Holzbau, von den Flammen entkräftet vor mir in sich zusammenfällt. Mit Leere verfolge ich den funkenumringten Sturz des Schilds mit der Aufschrift Jedidiah’s Toad Farm. Der Namensgeber liegt irgendwo in den brennenden Ruinen, mit aufgeschnittener Kehle. Nüchtern blicke ich auf das blutverschmierte Messer in meiner Hand. Weiterhin Leere. Emotionales Nichts. Es sollte mich beunruhigen, tut es aber nicht. Die Tränen des unvermittelten Schocks sind längst getrocknet.

      Die Jagdhütte habe ich damals genauso verbrannt. Eine Kremierung für meinen Bruder, der im finalen Moment seines tragischen Daseins seine Menschlichkeit wieder gefunden hatte. Dieses eine Wort – Anni –; so voller Trauer und gleichzeitiger Erleichterung …

      Bekannte Klänge reißen mich aus meinen Gedanken. Markerschütternd, grauenvoll, durchdringend. Dutzendfach. Es sind die Todesschreie der unzähligen Kröten, die in ihren Glaskästen lebendig verbrannt werden.

      Nein, Kröten quaken nicht. Aber sie können schreien.

      Eine Tatsache, die mir ein Grinsen entlockt.

      Rasch näher kommendes Sirenengeheul bildet den Startschuss für meine Flucht. Ich schultere den Rucksack und verschwinde im angrenzenden Wald. Durchstreife abgeerntete Felder. Kehre schließlich zur Straße zurück. Es ist nicht mehr weit. Ich kann es spüren – und riechen. Der Salzduft des Meeres überlagert die Aromen der Pflanzenwelt. Mein Ziel liegt in greifbarer Nähe. Mein Ziel, meine Vergeltung.

      Ein Auto nähert sich. Ich tauche im angrenzenden Straßengraben unter. Ebendort säubere ich meine Hände in einer Pfütze. Ich muss weitere vier Mal in Deckung gehen, ehe unvermittelt ein rostiges, verbeultes Straßenschild vor mir auftaucht. Die Schrift ist nüchtern, bar jeglicher Herzlichkeit. Kein Welcome!-Zusatz, keine hübschen, farbfrohen Schnörkeleien. Nur ein simples Wort: Innsmouth. Aus irgendeinem mir unverständlichen Grund kriege ich eine Gänsehaut. Nein, keine Gänsehaut. Wem will ich was vormachen?

      Grüne Schuppensegmente begrüßen mich, als ich den Pulloverärmel zurückziehe. Sie breiten sich immer schneller aus. Ein letztes Geschenk meines Bruders. Wie auch die dunkelgrüne Kruste an meinem Hals, die sich im Rekordtempo nach unten ausbreitet. Es ist nicht nur Rache, die ich inmitten dieser verfallen wirkenden Gebäude suche, sondern auch Erlösung. Dennoch habe ich ein


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