Toxicus. Anita Jurow-Janßen

Toxicus - Anita Jurow-Janßen


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       Er studiert also. Ich hab keine Ahnung gehabt, was er überhaupt treibt. Ich hätte mich öfter melden sollen. Aber die blöde Lehre hat alles kaputt gemacht.

      „Hey, Ronny, bist du noch da?“

      „Ja, ich überleg nur. Ich könnte doch schon zur Baracke gehen. Dann können wir uns dort treffen.“

      „Hm … ich hab jetzt ein Schloss vor der Tür. Aber warte, ich sag dir, wo der Schlüssel ist. Wenn du vor der Tür stehst, auf der rechten Seite unter dem Dach. Die Dachrinne hat dort ein Loch. Du wirst es sehen. Genau über dem Loch kannst du ihn finden.“

      „Oh, super, dann kann ich mich gleich auf den Weg machen. Wann bist du da?“

      „Na, wie gesagt, wohl so in zweieinhalb Stunden.“

      „Okay, bis dann. Bin gespannt, was du alles gemacht hast.“ Ronny hätte vor Freude fast laut gejubelt, hielt sich aber zurück. Lukas musste ja nicht wissen, wie sehr er sich nach Anabelle sehnte. Er war schon während des Gesprächs zu der beschriebenen Stelle gelaufen und tastete nach dem Schlüssel.

      Bingo! Er hatte ihn. Sein Körper kribbelte vor Freude. Anabelle, ich komme zu dir!

      Nachdem er die Tür aufgeschlossen hatte, dachte er, er käme in eine Versuchsstation. Alles war picobello aufgeräumt und geordnet. Von seinen Sachen war nur sein altes Sofa übrig geblieben. Alles andere war neu oder zumindest durch bessere Sachen ersetzt worden. Die Schlangen waren jetzt alle in dem Nebenraum, in dem Lukas das Fenster repariert hatte. Als Ronny den Raum betrat, schlug ihm eine tropische Wärme entgegen. Lukas hatte Luftbefeuchter und Wärmeleitungen eingebaut. Ein Thermostat regelte offensichtlich die Zufuhr der Wärme und Feuchtigkeit. Ronny hielt vor Staunen die Luft an, während sein Blick über die Glaskästen schweifte. Er zählte zwölf unterschiedlich große Terrarien. In jedem war eine Schlange. Aber wo war Anabelle? Am Ende der Terrarienreihe, in einem besonders großen Schlangenkasten, leuchtete ihm ihre hellorange Farbe entgegen. Sein Herz machte vor Freude einen Satz. „Da bist du ja, meine Geliebte“, sagte er. Er konnte gar nicht schnell genug mit ihr zum Sofa kommen. Welch ein Genuss, sie auf seinem Körper zu spüren!

      Nachdem er befriedigt war, sah er sich die anderen Schlangen und die Terrarien prüfend an. Seine beiden Vipern und die grüne Mamba waren auch noch da.

      „Hallo Birgit,“ begrüßte er seine Schlangenbirgit. Er dachte an die Ziegelei, und die Erinnerung an die furchtbare Tat war wieder so präsent, als wäre es erst gestern gewesen. Sein Hals wurde so trocken, dass er etwas trinken wollte. Er sah sich um. Im Kühlschrank, den er in der kleinen Kochnische entdeckte, fand er ein paar Flaschen Bier. Außerdem standen mindestens zwanzig kleine Flaschen mit irgendeiner Flüssigkeit darin. Er nahm eine Flasche heraus, öffnete sie und schnupperte. Was war das? Er konnte keine Erklärung finden. Er stellte die Flasche zurück und nahm sich eine Flasche Bier. Neben dem Kühlschrank an der Wand hingen ein Öffner und einige Schlüssel an einem Schlüsselbrett. Als er die Flasche ansetzte, traf sein Blick auf eine große runde Uhr, die an der Wand hing. Es war immer noch eine Menge Zeit, bis Lukas bei ihm sein würde.

       Ich werde mir die Ziegelei jetzt noch ansehen. Wenn Lukas hier ist, kann ich da nicht mehr hin. Ich darf auf keinen Fall eine Spur dorthin lenken.

      Er stellte die leere Bierflasche auf den Kühlschrank und machte sich auf den Weg.

      Die Sonne schien unschuldig und tauchte die alte Ziegelei in ein strahlendes Licht. Ronny drehte sein Gesicht der Sonne entgegen und spürte eine wohlige Wärme, obwohl es erst März war. Die Bäume und Sträucher, die in den letzten Jahren erheblich gewachsen waren, zeigten schon ihr zartgrünes Frühlingsgesicht. Ronny bemerkte es nur am Rande. Er war in Gedanken bei Birgit. Die tiefe Trauer, die er die ganzen letzten Jahre verdrängt hatte, bohrte sich jetzt wie eine heiße Nadel durch seinen Brustkorb. Ich werde ihr Grab besuchen. Ich werde für sie beten.

      Vor der Ziegelei angekommen sah er sich erleichtert um. Wenigstens hier war nichts verändert worden. Er konnte wie damals ungehindert in das Gebäude hineinkommen. Er ging zögernd zu dem großen Ofen, in dem er Birgit verbrannt hatte. Sein Herz klopfte, als wollte es zerspringen. Er öffnete vorsichtig die Ofentür. Obwohl er wusste, dass er darin nichts finden würde, starrte in das dunkle Ofenloch. Die Erinnerung brannte sich wie ein Brenneisen in sein Herz.

      Wie erschrocken war er damals gewesen, als er statt eines Haufens Asche eine verkohlte Leiche vorgefunden hatte. Ihm war nichts anderes übrig geblieben, als Birgits sterbliche Überreste in der gleichen Schubkarre, in der er sie von der Baracke zur Ziegelei gebracht hatte, nach draußen zu transportieren und sie zu vergraben. Bevor er sich auf die Suche nach einer geeigneten Stelle gemacht hatte, war er hinausgerannt und hatte sich neben der Eingangstür übergeben. Er fühlte sich hundeelend, sah aber keinen anderen Ausweg, als seine Tat zu vollenden. Er wartete, bis es ganz dunkel war. Dann brachte er Birgit zu dem auserwählten Platz, was zwischen den Bäumen und Sträuchern in der Dunkelheit gar nicht so einfach war, und fing an zu graben. Das dauerte viel länger, als er erwartet hatte, denn der Boden war verwurzelt und unzugänglich. Über ihn hinweg rauschten ein paar Eulen und vermutlich auch Fledermäuse, die er vor längerer Zeit in der Ziegelei entdeckt hatte. Der Schweiß rann ihm in Bächen den Körper herunter, während er Birgit in das Grab hineinlegte und die Erde über sie schaufelte. Tränen der Trauer und Verzweiflung liefen ihm über die Wangen. Leise stammelte er ein Gebet. Er schloss mit den Worten ab: „Ich habe dich doch so geliebt. Verzeih mir!“

      Das alles fiel ihm wieder ein, als er vor dem Ofen stand, und er spürte, dass er die Trauer immer noch nicht überwunden hatte. Er schloss die Ofentür und ging zu den Bäumen hinter der Ziegelei. Es dauerte eine Weile, bis er die Stelle wiederfand. Es war inzwischen alles noch viel mehr verwuchert und fast unbegehbar geworden. Glücklicherweise hatte er sich die Stelle ziemlich genau eingeprägt und außerdem ein großes „B“ in den Baum darüber geschnitzt. Als er Birgits Grab gefunden hatte, konnte er nicht verhindern, dass seine Augen sich erneut mit Tränen füllten.

      Er wusste nicht, wie lange er dort verweilt hatte, aber als er zurück zur Baracke ging, wurde ihm klar, dass es schon ziemlich spät sein musste. Hoffentlich ist Lukas noch nicht da!

      Schon als er auf das Gelände der Baracke einbog, sah er, dass Lukas’ Auto vor dem Eingang stand.

      „Scheiße!“, fluchte er. Wie soll ich das jetzt erklären?

      Lukas saß in der Kochnische auf dem einzigen Stuhl, der dort stand, und trank eine Flasche Bier.

      „Wo warst du denn?“, war seine Begrüßung.

      „Ich war schon so früh hier, dass ich noch einen Spaziergang machen konnte. Dabei habe ich die Zeit wohl ein bisschen vertrödelt. Bist du denn schon lange hier?“

      „Nein, vielleicht zehn Minuten, oder noch nicht mal. Hast du dich denn hier schon umgesehen?“, fragte Lukas, nicht ohne Stolz in der Stimme. Er war aufgestanden und hatte Ronny freundschaftlich umarmt. Er musste sich dabei auf die Zehenspitzen stellen, denn Ronny überragte ihn um einen ganzen Kopf. Neben Ronny sah Lukas wie ein Schüler aus, der zu wenig zu essen bekam. Seine blonden Haare standen immer etwas zu Berge und seine blauen Augen wirkten häufig verklärt. So, als ob er nie bei der Sache der anderen war, sondern immer nur bei sich selbst und seinen Experimenten. Er freute sich aber offensichtlich über Ronnys Besuch. Endlich konnte er sich mit jemandem austauschen, der auch etwas von Schlangen verstand.

      Ronnys Anspannung lockerte sich und kumpelhaft klopfte er Lukas auf den Rücken.

      „Na klar. Ist super, was du alles gemacht hast“, versicherte er. „Wissen deine Eltern denn inzwischen, was du so treibst?“

      Lukas sah ihn an. Sein Blick wurde traurig. „Nicht wirklich. Mein Vater ist inzwischen gestorben. Meine Mutter weiß, dass ich für mein Studium ein Labor eingerichtet habe und dass ich sehr oft darin arbeiten muss. Mehr muss sie ja nicht wissen.“

      Ronny schluckte. „Dein Vater ist tot? Seit wann das denn?“

      „Hm, so zweieinhalb Jahre ungefähr.“

      „Tut mir leid. War er


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