Aufschwung-Ost. Joachim Gerlach
selbstbewusst, mit sehr kurzem Haar im eng anliegenden nadelgestreiften Hosenanzug, der Ansatz wohlgeformter Brüste im großzügig geschnittenen Dekolleté des Jacketts deutlich sichtbar . Sie beanspruchte mit knappen aber durchaus energischen Worten ab sofort alle Auswertungen der Holsteinschen Datenverarbeitungen, sie wäre der nunmehr den Prozess der Fördermittelvergabe controllende Supervisor. Sie hätte aber prinzipiell erst einmal nichts dagegen, dass er, Holstein, bis auf weiteres, bis zum Zeitpunkt der vollen Arbeitsfähigkeit der neuen EDV-Anlage konkret, das diesbezüglich vom ihm selbst erdachte und gebastelte, sie sagte auch wörtlich „gebastelte“, Programm auch höchstselbst noch mit Primärdaten aus dem Fördergeschehen beschickte, dafür hätte sie momentan sowieso keine Zeit. Und außerdem, so wie sie es nach kurzem Blick auf den Bildschirm einschätze, sei sein Progrämmchen, wenn man es denn überhaupt als ein solches bezeichnen könne, ohnehin nicht auf dem letzten Stand: WINDOWS wäre jetzt angesagt, EXCEL und ACCESS. Die Auswerteliste möge er ihr also immer gleich zu Beginn des neuen Monats vorlegen. Ach ja, noch etwas: Sollte er, Holstein, irgendwelche Sperenzchen machen, würde sie weder scheuen noch zögern, darüber Klage zu führen und zwar gleich ganz oben. Außerdem, sie schnupperte arrogant mit erhobenem Näschen, täte es dringend Not, in seinem Arbeitszimmer wieder einmal kräftig zu lüften. Es müffle nach abgestandenem Tabaksqualm und Altherrensocken. Bis bald also, man sieht sich.. Sprach‘s und verschwand, nicht ohne jedoch noch einen abwertend-geringschätzigen Blick auf Holsteins arg verschlissene Jeans zu werfen. Holstein stand wenige Minuten nach ihrem Erscheinen wieder allein im Raum. Baff. Die am Horizont zwischen den Fetzen dunkler Abendwolken rot hindurch blinzelnde untergehende Sonne warf ihm ihre kaum noch wärmenden Strahlen fast waagerecht in den von total entgleisten Gesichtszügen umrahmten halboffenen Mund. Was, verdammt noch mal, bildete sich diese Rotznase denn eigentlich ein, und was um Himmels Willen ging hier eigentlich vor?
Nachdem er seine erste Fassung einigermaßen wiedergewonnen hatte, stapfte er zwecks Klärung des ungeheuerlichen Vorfalls zu Wunderlichs Büro. Das lag mittlerweile eine Etage höher. Dort, wo sich schon immer, auch zu DDR-Zeiten, die Büros der Bereichs- und Abteilungsleiter befanden, denn der obzwar körperlich sehr behäbige, völlig gegensätzlich dazu jedoch geistig äußerst agile und anpassungsfähige Wunderlich hatte es schon geschafft, seine Füße auf die ersten, aber doch schon bedeutenden Stufen der neuen Karriereleiter zu setzen, war bereits zum stellvertretenden Abteilungsleiter avanciert. Bislang hatte er auch, so es um Holsteins Verbleib im Amte ging, stets schützend die Hand über den gehalten, waren beide doch nahezu die einzigen aus dem alten Personalbestand noch Verbliebenen. Das schaffte Nähe. Holstein nahm gleich drei Stufen auf einmal und hätte oben um ein Haar fast den Abteilungsleiter umgerannt.
„Ach, Holstein, gut, dass ich Sie hier treffe. Sie kommen mir wie gerufen.“
Holstein, jäh gebremst in seinem Lauf, den Kopf noch voll mit den düsteren Neuigkeiten aus dem Munde der dekolletierten Nadelgestreiften, stand starr. Musste er auch dem Knaller gerade jetzt über den Weg laufen?! Erfahrungsgemäß trug der zumeist irgendeine völlig abstruse Idee mit sich herum, manchmal auch eine, die nicht auf seinem Mist gewachsen war, oder, wie es Wunderlich so trefflich zu sagen pflegte, beim parallelen Pinkeln auf der Herrentoilette im Lions-Club geboren wurde. Darin wenigstens unterschieden sie sich nicht, die alten wie die neuen Herren: ohne jegliche Ahnung vom Tuten und Blasen erwarteten sie die Abarbeitung ihrer irgendwo aufgeschnappten Vorstellungen, positiv gelöst in ihrem Sinne selbstredend und wurden fuchtig, wenn die Recherchen nicht zu dem von ihnen gewünschten Ergebnissen führten. Allerdings gab es da doch einen nicht unbedeutenden Unterschied: Während die alten, die abgedienten Herren Genossen, in langjähriger Praxis der öffentlichen Verwaltungsarbeit gestählt, sich bei all ihrer Profilierungssucht mehr oder weniger bedeckt hielten, nur hin und wieder mit überraschenden Einfällen ihre Unterstellten traktierten, vermeinten die neuen, die in dieser Tätigkeit noch ungeübten Herren, die öffentliche Verwaltungsarbeit von einem Tag zum anderen revolutionieren zu müssen. Holstein, schon oft als Springer in solcherlei Angelegenheiten missbraucht, sollte sich auch diesmal nicht irren, der Abteilungsleiter zerrte ihn gleich mit sich in sein Büro. Als hier noch dessen Vorgänger und Mitglied des Sekretariats der SED-Bezirksleitung schaltete und waltete, herrschte darin stets peinliche Ordnung. Damit war es nun vorbei: auf dem riesigen Arbeitstisch, an dem dereinst zukunftsfrohe Beratungen zur Führung des sozialistischen Wettbewerbes im Bezirksmaßstab geführt wurden, und Holstein zu Wendezeiten trotzig dem Versuch seiner Disziplinierung widerstand, sah es aus wie in der Festung Tobruk nach deren Räumung: Ordner aller Größen und Farben stapelten sich zuhauf, wie Kraut und Rüben lagen alle möglichen Zettel, Blöcke und Unterlagen durcheinander. Der stete Versuch, hinreichend Übersicht zu organisieren, konnte ob der Vielfalt der auf dem Tisch zu verwaltenden Angelegenheiten nicht gelingen. Alle Bemühungen der erst neu eingestellten Sekretärin, einer schon etwas ältlichen, aber in jahrelanger ähnlicher Tätigkeit ausreichend trainierten Person, mit Hilfe altbewährter Ablagesysteme ein gewisses Maß an Überschaubarkeit zu schaffen, scheiterten stets daran, dass der in Verwaltungsangelegenheiten wenig erprobte Abteilungsleiter ihre permanent geschaffene Ordnung immer wieder durchbrach. Er vermochte die Vorgänge nur zu verwalten, wenn er sie nicht nur vor seinem geistigen sondern vor allem vor seinem physischen Auge liegen sah. Deshalb fanden seine sämtlichen Dienstberatungen, die allein schon aus diesem Grunde dem dicken, weiträumige Bequemlichkeit liebenden Wunderlich ein Gräuel waren, am kleinen Rauchertisch in der Ecke des weiträumigen Raumes statt. Dorthin führte der Abteilungsleiter jetzt auch Holstein und hieß ihn in einem der Sessel Platz nehmen.
„Ich habe da, eh, gestern im Lions-Club, eh“, ach du Scheiße, jetzt kommt’s wieder dicke, Holstein hockte verkrampft und mit seinen Gedanken sonst wo, vor allem bei der Dekolletierten, vornehmlich bei deren arroganter Bedrohung, ein bisschen auch bei derem Dekolleté, im Sessel, „ein interessantes Gespräch, eh, mit dem Chef der hiesigen Niederlassung der Deutschen Bank geführt. Sie wissen schon, mit dem Herrn Doktor von und zu, eh, haste nich geseh‘n. Versuchen Sie doch einmal, eh, die EDV-technischen Möglichkeiten der Datenübernahme von der Bank zu eruieren. Vor allem die der dort gespeicherten, eh, Förderprogramme natürlich. Die generelle Zusage des Bankchefs hab‘ ich schon mal in der Tasche, eh. Standleitung oder so ähnlich, lassen Sie sich, eh, etwas Vernünftiges einfallen. Noch Fragen, eh?“
Damit waren beide am neuralgischen Punkt eines jeden ihrer bisher geführten Fachgespräche angelangt. Diesmal überraschenderweise etwas zügiger, denn der Abteilungsleiter hatte auf den sonst üblichen Vorspann, mit dem er als ehemaliger Dozent der hiesigen Universität gern sein Licht zum Leuchten brachte, verzichtet.
Holstein rutschte etwas nach vorn und schob den Zeigefinger gegen sein Kinn und setzte eine bedenkliche Miene auf. Diese Geste kannte sein Gegenüber bereits zur Genüge, die Miene auch. Deshalb verfinsterten sich auch augenblicklich seine Gesichtszüge und ohne Holstein auch nur zu Wort kommen zu lassen, blaffte er, jetzt krebsroten Angesichts, gleich los:
„Na klar, eh, wie immer, wie immer! Destruktiv, Holstein, wie immer destruktiv! Holstein, sehen Sie zu, eh, dass Sie eine Lösung finden! Und zwar eine brauchbare! Ich, eh, höre von Ihnen!“
Holstein sah zu, dass er aus dem chaotisch zugerichteten Raum kam, womöglich fielen dem Knaller sonst noch eine oder gar mehrere seiner Rosinen ein. Nun hatte er zwei Probleme am Hals, seine funktionelle Enthebung, ausgesprochen de facto durch die Dekolletierte, und die standleitunggestützte Förderdatenübernahme von der Deutschen Bank. Letzteres würde er sich wie mittlerweile hinreichend bei solcherart Aufträgen praktiziert vom Halse zu schaffen wissen: erst mal ein Weilchen in der Schubkastenlade schmoren lassen, dann beim entsprechenden Verantwortlichen der Bank einen langfristig angelegten Termin vereinbaren. Die Wahrnehmung des Termins würde sich dann wie so oft gehabt schon beizeiten erübrigen, denn die zumeist völlig unausgegorenen Ideen seines umtriebigen, aber im seinem Amt offensichtlich überforderten neuen Abteilungsleiters erledigten sich vielfach im Voraus. Abschlägig in aller Regel.
Verblieb Problem Numero eins. Wunderlich, damit konfrontiert und zur Rede gestellt, war nicht ganz ahnungslos. Er saß, die Arme hinter dem Nacken verschränkt, zurückgelehnt im ledernen Drehstuhl, die Füße weit von sich gestreckt, stierte auf einen imaginären Punkt irgendwo an der Decke und rührte sich auch nicht, als Holstein ohne anzuklopfen in den Raum stürmte.
„Was ist denn hier los, Beamtenmikado?“,