Schwester des Mondes - Teil meines Lebens. Sorella Di Luna
ich gelernt hatte, dass ich vergänglich bin, habe ich den Schutz für Dich übernommen. Ich gab Dir meine Ruhe, meinen Trotz und meinen Verstand. Ich gab Dir vor allem meine Gefühle. So wurde ich neun Jahre alt und lernte körperliche „Liebe“, die ich nicht verstand und nicht haben wollte. Aber ich schützte Dich. So lange ich konnte. Nach dem Tod von Mama 2006 konnte ich es nicht mehr. Ich liebte Dich abgöttisch. Ich verließ mich auf Dich. Ich eiferte Dir nach. Und Du hast mir gegeben, was ich niemals wollte. Warum hast Du das getan?
Ich lebte in Angst, meine Emotionen gingen falsche Wege und mein Vertrauen in das Geliebt-Sein wurde erschüttert, bevor es sich aufbauen konnte. Warum hast Du das getan?
Keine Geschwister auf der Welt hatten sich so lieb wie wir. Warum hast Du mich nicht Kind sein lassen? Warum wolltest Du mir Deine „erwachsenen“ Gedanken und Gefühle aufdrängen? Warum musstest Du Dir beweisen, dass Du funktionierst? Warum hast Du MICH „geliebt?“
Mein natürlicher Glaube wurde mir durch Dich genommen. Meine Unschuld wurde mir durch Dich genommen. Aber durch Dich lernte ich auch, mich zu absentieren. Durch Dich lernte ich, später Aidans Folter zu widerstehen. Aber... was wäre gewesen, wenn Du mir nicht das Erwachsenwerden genommen hättest?
Wäre Aidan dann gewesen?
Wäre mein Sohn dann gewesen?
So weiß ich also nicht, was gut oder was schlecht war. Und ich weiß es heute noch nicht.
Ich liebe Dich immer noch, aber ich habe Distanz zu Dir. Es fällt mir schwer, Dir in die Augen zu sehen. Liebe ich Dich noch? Ich weiß es wirklich nicht. Aber Du bist mein Bruder.
Dein Schwesterlein,
Deine Luna
1 Dezember 2007
„Vielleicht besteht die Liebe darin, dass ich dich sanft und liebevoll zu Dir selbst zurückführe.“ Antoine de Saint-Éxupery
Luna ist müde. Müde von allem, müde vom Reden müssen, müde vom Denken müssen. Will sie Erkenntnisse gewinnen? Hat sie noch die Kraft dazu? Sie legt ihren Kopf ganz vorsichtig auf die Tischplatte vor ihr, fühlt die Kühle des Holzes und verdammt sie. Die Kühle. So gerne möchte sie reflektieren, analysieren, sich selbst verstehen. Aber ihre Seele lässt es nicht zu. Sie ist traurig um die Menschen, die ihr genau dies ermöglichen wollen, traurig darum, dass sie nicht weiß, wie es weitergehen soll. Denn Luna selber hat keine Idee, kein Empfinden, kein Tor zu ihrer Seele, das sich im Moment von ihr öffnen ließe.
Immer, immer hat sie sich selbst hinterfragt, hat andere einbezogen in ihre Gedanken, hat, wenn auch insgeheim, versucht, alles, was sie empfängt, auf einen Nenner zu bringen. Hat versucht, Dinge für sich zu ordnen, zu strukturieren, zu hinterfragen. Aber jetzt ist der Moment gekommen, in dem sie nicht mehr weiß, was sie tun soll. Denn sie hat Angst, Glück zu empfinden, hat Angst, Gefühle zu haben, Angst zu verlieren, Angst zu gewinnen. Warum sie immer eines von beidem haben muss, das fragt sie sich nicht. Denn sie ist es gewöhnt, dass Dinge den Weg gehen, den sie sich vorgestellt hat. Jetzt ist sie an einem Punkt angelangt, an dem sie nicht mehr weiß, ob sie will oder kann. Ob sie leben will oder nur leben kann. Für wen es einen Sinn hat. Denn für sie hat es schon lange keinen Sinn mehr.
Januar 2008
Und Wochen später ist Luna immer noch müde. Sie schlägt die offene Handkante auf die Kante ihres Schreibtisches. So lange bis es schmerzt. Obwohl es lange dauert bis sie den Schmerz spürt.
Denn alles in ihr verwehrt sich dagegen. Sie meint zu wissen, dass es ihre Schuld ist, dass sie diesen Schmerz spürt. Sie kennt keine Liebe, keine wahre Sehnsucht. Nur dieses Unerfüllte, Strebende in ihr. Und sie meint auch zu wissen, dass es dafür keine Lösung gibt. Kein Ende. Nichts, was ihre schmerzende, jetzt schwellende Hand rechtfertigen würde. Und sie tut es weiter, denn je mehr sie schlägt, desto unfühlbarer wird der körperliche Schmerz. Er hinterlässt nur ein dumpfes Gefühl, wie es auch in ihrer Seele vorherrscht. Es ist ein dumpfer, anhaltender Schmerz, der irgendwann nicht mehr nach außen dringt. Und er ist nicht mehr beherrschbar, denn wenn er das wäre, wäre er fühlbar.
Es ist eine Welt, wie es viele andere Welten in ihr waren oder noch immer sind. Erst stechend, dann dumpf. Erst erlebbar, dann kaum noch fühlbar. Und nicht wirklich erwünscht, eher ersehnt um darüber liegendes abzutöten. Ob es gelingt, kann Luna nicht sagen. Kann sie nicht fühlen. Denn sie fühlt im Moment immer nur eines. Oder nichts.
Und wieder legt sie ihre Stirn auf das kühlende Holz. Und sie findet das Bodenlose. Das, wovon andere sagen, es sei das Leben. Das woraus andere Inspiration ziehen. Und sie sieht nur das Dunkel. Das Unbestimmte. Das für sie Unerreichbare.
Am nächsten Tag erwacht Luna, sie hat tief geschlafen und kann sich an ihre Träume nicht erinnern. Sie folgt ihren früh morgendlichen Ritualen, also dem genauen Ablauf von Waschen, Zähne putzen, Anziehen. Immer in der gleichen Reihenfolge. Immer mit den gleichen Gedanken. Schon jetzt erschöpft und müde setzt sie sich hinter das Steuer ihres Wagens, legt die CD ein, die sie immer hört, seit Monaten schon. Drückt weiter um immer wieder das gleiche Lied morgens zu hören. Die Fahrt zur Arbeit ist Routine, trotzdem lauern immer wieder Gefahren für sie auf dem Weg. Nicht nur von außen, auch in ihr drinnen lauert oft ein böser Wunsch. Besonders, wenn sie über diese Brücke fährt. Achtzig Stundenkilometer sind erlaubt und sie liebt es, am frühen Morgen auf leerer Straße zu beschleunigen, sich vorzustellen, sie durchbricht dann das Brückengeländer. Hat dann ein, zwei Sekunden Zeit nachzudenken... was käme ihr wohl in den Sinn? Bevor sie mit dem Auto auf das Wasser aufschlagen würde? Sie liebt das Wasser. Sie hat keine Angst davor. Nur vor den schnellen Gedanken hat sie Angst, die Gedanken, die sie nur kennen wird, wenn sie es wagt! Sind Gedanken, die solche Angst machen, überhaupt wert gedacht zu werden? Luna weiß es nicht und sie hat Angst vor diesen Gedanken. Die Brücke ist nun überwunden und Luna ist wieder einmal erleichtert über sich selbst...
In der Firma angekommen folgt sie weiter ihren Ritualen. Immer das gleiche. Viele Menschen um sie herum, Menschen, die sie mag, Menschen, die sie mögen. Manchmal fühlt es sich gut an, dort zu sein. Mit dem innigen Wunsch, geliebt und unersetzbar zu sein. Sie weiß, dass es nur ein Wunsch ist, eine Spinnerei, eine Fantasie. Die Welt ist nicht perfekt. Auch ihre Welt nicht.
Die Kunden kommen und gehen. Luna weiß, dass sie mit Offenheit und Freundlichkeit vieles erreichen kann. Warum kann sie es nicht in ihr Leben transponieren? Warum kann sie diese Offenheit und Herzlichkeit nicht in sich spüren? Es hat für sie nur den Wert eines Geschäftsgebarens. Es ist ein Mittel zum Zweck. Sie wünschte, diese Gefühle würden ihre Seele streicheln, aber sie wartet vergebens darauf. Oder hat sie da nur wieder einmal Angst vor Gefühlen?
Nachmittags, auf dem Weg nach Hause, wieder das gleiche Lied. Und böse Wünsche tief in ihr. Und viel mehr Sehnsucht, sie erfüllt zu sehen. Hier und jetzt sind ihre Tage austauschbar. So lange schon kann sie keinen Unterschied mehr sehen. Durchbrochen wird die Gewohnheit manchmal mit einem E-mail-Austausch, mit einem chat, mit Giorgio und seiner Frau Gitty. Für sie die einzigen Freunde, die sie hat. Die einzige Freude, die sie verspüren kann. Denn die Welt ist anders zu ihr, wenn sie dort ist. Die Welt in ihr ist anders. Aber jetzt, abends zu Hause, ist ihre Welt wieder die alte. Verkehrt, dumpf, abwartend, ängstigend, lauernd.
Lunas Tagebuch:
"Ich bin ganz allein in einem mehrstöckigen, großen Haus. Das Haus steht leer. Es ist umgeben von einer großen, parkähnlichen Anlage mit vielen großen und alten Bäumen.
Es muss Sommer sein, die Bäume tragen dichtes Blattwerk. Das kann ich aus den Fenstern heraus sehen. Auch trage ich nur ein T-Shirt, kurze Hosen und Turnschuhe.
Ich weiß, dass ich aus diesem Haus heraus muss, ich muss nach Hause. Wo auch immer "zu Hause" ist. Ich irre eine ganze Weile in dem Haus herum, fühle dass jemand mich verfolgt, sehe und höre aber niemanden. Im obersten Stock klettere ich von einem Balkon an der Regenrinne hinunter auf eine Terrasse im Erdgeschoss. Von da aus irre ich eine Weile in dem Park herum, bis ich ein Loch im Zaun finde durch das ich auf die Straße gelange. Eine Straße,