müllersches volksbad. Markus Seidel
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markus seidel
müllersches volksbad
roman
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Inhaltsverzeichnis
1
Es war viertel vor zehn am Sonntagabend, der Abspann des
Tatort
lief. Eben hatte ich das Rotweinglas umgestoßen, das neben dem Sofa auf dem Fußboden stand, als das Telefon klingelte. Ich kümmerte mich nicht darum, ging rasch in die Küche auf schwankenden Beinen, holte einen Schwamm und wischte den Wein damit auf. Das Glas war zerbrochen. Prompt schnitt ich mich an einer der Scherben. Mein Zeigefinger blutete. Jetzt musste ich also auch das Blut fortwischen. Die Weinflasche war fast leer. Ich war müde und etwas betrunken. Deshalb das umgeworfene Glas. Deshalb der Schnitt in den Finger. Sonst passierte mir sowas nicht. In der Nacht hatte ich bis halb drei Uhr im Internet recherchiert. Seit kurzem saß ich an einem größeren Artikel über einen amerikanischen Journalisten und Schriftsteller, dessen Name mir bislang völlig unbekannt gewesen war und der sich irgendwann mittels Kopfschuss das Leben genommen hatte. Ich beabsichtigte, für die Tageszeitung, für die ich schrieb, eine längeren Beitrag zu verfassen. Damit wollte ich gewissermaßen meinen journalistischen Durchbruch einleiten. Allmählich wurde es nämlich Zeit, dass sich etwas tat in meiner Karriere. Es sollte ein langer, wichtiger Beitrag werden für die übernächste Wochenendausgabe. Ich musste also sauber recherchieren. Diesmal musste alles wasserdicht sein. Wasserdicht und geistreich.
Geschrieben hatte ich bisher noch keine Zeile, aber innerhalb kurzer Zeit allerhand Informationen eingeholt. Hunter S. Thompson, so hieß er, war mit einer besonderen Form des fiktiven Journalismus bekannt geworden, dem sogenannten Gonzo-Journalismus. Er und seine Anhänger gingen davon aus, dass die echte und einzige Wahrheit im Bereich zwischen Fakten und Fiktion zu finden sei. Thompson hatte schon gegen Johnson und Nixon gekämpft, gegen Reagan und den alten George Bush. Gegen George W. aber hatte er sich noch einmal richtig ins Zeug gelegt. Thompson hatte ihn einen bekloppten Kinderpräsidenten genannt, einen Narren, einen Versager, einen Wasserkopf-Sohn aus Texas. Wahrscheinlich hatte er damit Recht.
Je mehr ich über Hunter S. in Erfahrung brachte, desto mehr zog er mich in den Bann. Seine Methode der Vermengung von Tatsachen und Fantasie fand ich großartig. Sein Selbstmord hingegen war für mich eine einzige Überraschung und eigentlich kaum zu glauben. Es wollte mir einfach nicht in den Sinn, weshalb der Bursche sich selbst zur Strecke gebracht hatte. Und genau hier lag der Schlüssel zu meinem Artikel: Er soll unter anderem eine Untersuchung des Zusammenhangs zwischen Künstlertum und Suizid darstellen. Denn natürlich war Thompson kein Einzelfall, was den Selbstmord unter Künstlern – Schriftstellern, Malern, Komponisten, Philosophen und so weiter – betrifft. Immer schon hatte es eine Vielzahl von Selbstmördern unter ihnen gegeben. Eine befreundete Psychologin hatte ich bereits auf diese Verbindung angesprochen. Ich wartete noch auf ihre Ergebnisse zu diesem Thema. Als Dank, so hatte ich es mir gedacht, würde ich sie zum Essen ins Restaurant einladen. Irgendwann, wenn ich wieder bei Kasse wäre. Oder ich koche einfach selbst. Frauen mögen Männer, die kochen können. Ich konnte es nicht. Egal.
Nachdem ich den Wein und das Blut mit der unversehrten Hand fortgewischt hatte, klingelte es immer noch. Herrje, wie konnte man bloß derart hartnäckig sein?! Ich hatte jetzt wenig Lust auf ein Gespräch, mit wem auch immer, ging ins Bad und klebte mir ein Pflaster auf die Wunde. Warum eigentlich hatte ich das nicht zuerst gemacht und dann den Wein aufgewischt? Egal. Es klingelte immer noch. Wer es so lange läuten ließ, hatte entweder Langeweile oder etwas Dringendes auf dem Herzen. Also nahm ich ab.
Es war Alexander, mein Bruder aus München. Alexander war vier Jahre jünger als ich und schrieb Romane. Es lief einigermaßen bei ihm. Seit ein paar Jahren verdiente er sein Geld hauptsächlich mit der Schreiberei. Alexander war ziemlich anspruchslos, er lebte recht bescheiden, Urlaub machte er praktisch nie, hin und wieder wurde er von einer Zeitung eingeladen, eine Reise irgendwohin zu unternehmen, um dann einen Beitrag darüber zu schreiben. Fast immer schickte er mir eine Karte, über die ich mich jedes Mal freute. Ich hingegen schrieb ja seit Jahren keine Karten mehr, Briefe schon gar nicht. Ich kannte auch kaum noch jemanden, der Briefe schrieb. Ich rief an oder schickte eine Email. Wenn überhaupt.
Alexanders Anruf war zweifellos eine Überraschung. Unser letztes Telefonat lag schon einige Wochen zurück. Ich überlegte, wann wir uns zuletzt gesehen haben, aber es fiel mir im Moment nicht ein. Unser Verhältnis war zugegebenermaßen nicht besonders eng. Das heißt zwar nicht zwangsläufig, dass es schlecht war, aber wir hatten uns doch mehr und mehr aus den Augen verloren. Ich war mit meiner Karriere beschäftigt, er mit seiner. Seine lief eindeutig besser. Oder sagen wir: weniger schlecht.
Meiner Ansicht nach hatte Alexander das Zeug zu einem echten Bestsellerautor. Kurz bevor sein erster Roman veröffentlicht wurde, riet ich ihm, unbedingt selbst etwas zu unternehmen, um die Leute auf sich aufmerksam zu machen. Ich hatte ihm klarzumachen versucht, dass es zwecklos sei, darauf zu hoffen, dass die Medien darauf anspringen. Schließlich kannte ich das Geschäft. Alexander hatte zunächst keinen blassen Schimmer, worauf ich hinauswollte. Ich erzählte ihm dann von einem Autor, der sich vor vielen Jahren während einer Lesung, bei der zahlreiche Journalisten und Kritiker anwesend waren, mit einem Messer oder eine Rasierklinge, so genau wusste ich das nicht mehr, in die Stirn geschnitten hatte. Das Blut hatte direkt auf das Manuskript gespritzt, das vor ihm lag und aus dem er bis dahin gelesen hatte. Natürlich gab es ein großes Geschrei, er aber las weiter, oder besser, er schrie, schrie gegen das Geschrei an, und dann dauerte es nicht lange, bis sein Name in allen Zeitungen stand. Der Mann war über Nacht zu einer Berühmtheit geworden.
Genau so musste man es machen! Man muss die Leute provozieren, hatte ich Alexander eingeschärft. Man muss auffallen, irgendwie. Man muss sich ins Gespräch bringen, sonst verhungert man schon nach der ersten Auflage. Die Welt, hatte ich ihm gesagt, ist voll von Schreibern, die hundertmal weniger könnten als er, die aber leider berühmt sind, weil sie