Seltener Besuch. Erhard Schümmelfeder
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Erhard Schümmelfeder
Seltener Besuch
oder Der Junge der keine Probleme hatte
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Inhaltsverzeichnis
Die Vorgeschichte
Der Zyniker Cornelius Schenkhut war bekannt für seine bissigen Reden, in denen er sich über die Dummheit in der Welt ereiferte. Nur selten bekam er Besuch von Verwandten; Bekannte und Nachbarn gingen ihm aus dem Weg, weil seine beleidigenden Bemerkungen zu Fragen des menschlichen Miteinanders stets in Streit ausarteten. Oft beklagte er voller Verbitterung die Verdorbenheit des Lebens und die schier grenzenlose Torheit der Menschen. Am Fenster seiner Küche sitzend, schickte er in Selbstgesprächen üble Flüche in die Welt hinaus, um seinen Empfindungen Ausdruck zu verleihen. So lebte der nörglerische Mann allein in seinem Haus am Rande des Bevertals.
Unter den Kindern der Nachbarschaft wurde Cornelius Schenkhut nur der Kinderfresser genannt, nachdem sich herumgesprochen hatte, dass mit diesem Zeitgenossen nicht zu spaßen sei. Auch Prospektverteiler und Handelsreisende, die den hitzköpfigen und rechthaberischen Sonderling längst kannten, mieden das Haus, denn hier war nichts zu bewegen oder gar zu holen.
Einmal im Jahr, zumeist im Frühling, verirrten sich zwei Männer in die Straße, an deren Ende Cornelius Schenkhut wohnte. Immer war einer der beiden Männer uniformiert, während der andere Zivilkleidung trug. Die von Jahr zu Jahr wechselnden Spendensammler des Kyffhäuser Soldatenbundes schellten auch jedes Mal an der Haustür von Cornelius Schenkhut, um ihr Anliegen vorzutragen: »Guten Tag, wir sammeln für die Kriegsgräberpflege in Russland. Möchten Sie etwas spenden?« Die Sammelbüchse, die stets von dem uniformierten jungen Mann gehalten wurde, veranlasste Cornelius Schenkhut im ersten Jahr dazu, ein bissig hingebelltes »Nein» ertönen zu lassen, bevor die Tür sich vor den verdutzt-erschrockenen Männern wieder verschloss. Im darauffolgenden Jahr wiederholte er seine schroffe Verneinung und ließ die Tür mit Wucht ins Schloss fallen. Im Laufe der Zeit wurde der Besuch der Spendensammler zu einer fast willkommenen Abwechselung im eintönigen Leben des alten Mannes. Einmal zwang er sich zu einem sarkastisch-freundlichen »Nein«, wobei er seine nicht mehr vollständig vorhandene Zahnreihe entblößte, während er zwölf Monate später einen gelangweilten und gleichgültigen Kommentar äußerte.
Da es keine anderen Auseinandersetzungen mit dem Leben und den Menschen gab, war der Besuch der Spendensammler gleichzeitig immer eine Gelegenheit, den angestauten Groll mit leidenschaftlicher Inbrunst hinauszubrüllen. Sobald er die beiden Männer in der Straße auf sein Haus zukommen sah, rieb er sich die Hände anlässlich der bevorstehenden Begegnung, auf die er zwölf Monate schimpfend gewartet hatte. Die Palette seiner Nein-Variationen war bunt und voller Gefühlsregungen: sachlich, lauthals, drohend, fauchend, hustend, krächzend, hämisch grinsend, verächtlich glotzend, empört prustend und einmal sogar gekünstelt singend, hatte er seine ablehnende Haltung bekundet.
Seine verbale Ausdrucksweise wich bald einer nonverbalen Form: Einmal schüttelte er nur mit zusammengepressten Lippen sein Haupt. Im darauffolgenden Jahr vollführte er schadenfroh grinsend ein bedauerndes Achselzucken. Nie erlaubten sich die Bittsteller ein Wort des Widerspruchs oder gar der Kritik; immer zogen sie sich kommentarlos zurück und gingen weiter zur nächsten Straße.
Wieder einmal schellte es an der Haustür. Wieder öffnete Cornelius Schenkhut, doch ließ er dem Sprecher keine Zeit, seine Bitte vorzutragen und sagte nur knapp: »Nein, nein und nochmals nein.« Schon wollte er die Tür zuschlagen, da fragte der Uniformierte mit der Sammelbüchse interessiert: »Und warum nicht?«
Die unverhoffte Frage irritierte Cornelius Schenkhut einen Moment. Schweigen. Nachdenken. Endlich fasste er sich und schnauzte den Männern seinen Standpunkt ins Gesicht: »Für Kriegsopfer spende ich, für Kriegstäter aber nicht. Basta!«
Von seinem Fenster aus beobachtete er die beiden Männer, die sich eilig aus der Straße entfernten. Bevor sie seinen Blicken entschwanden, zog der Mann in Zivil ein Notizbuch aus der Jacke und notierte etwas mit einem Stift. Aha, dachte der Zyniker, das saß!
Im folgenden Frühling hockte Cornelius Schenkhut wieder am Fenster seiner Küche und äugte lauernd die Straße entlang. Endlich erblickte er die beiden Sammler, deren Gesichter er nicht kannte. Vergeblich rieb er seine Hände, denn nachdem sie das vorletzte Haus der Straße besucht hatten, kehrten sie um, ohne sein Haus auch nur zu beachten. Die Flüche, die Cornelius Schenkhut ausstieß, können an dieser Stelle nicht alle wiedergegeben werden. Nur soviel sei versichert: sie waren recht übel und keinesfalls gesellschaftsfähig.
Im folgenden Frühling blieb der Besuch der Spendensammler wieder aus. In diesem Leben, soviel hatte Cornelius Schenkhut begriffen, würde er wahrscheinlich keine Spendenbitten mehr hören. Hatte er sich richtig verhalten? Ja, ja und nochmals ja, sagte er sich. Kein Wort würde er je von seiner Meinung zurücknehmen.
Trotzdem vermisste er merkwürdigerweise den Besuch der beiden Männer.
*
Tobias Schenkhut hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, alle Ereignisse seines Lebens mit Sympathienoten zu versehen. Die Ferien in der Weserstadt Höxter bewegten sich auf seiner imaginären Bewertungsskala launisch zwischen 1 und 6. Heute würde er auf dem Bahnhof den Jungen treffen, der keine Probleme hatte...
So könnte ein Roman aus der Sicht eines allwissenden Erzählers beginnen...
4 minus, dachte er, als ihm einfiel, dass es keine Möglichkeit gab, die erste Begegnung mit seinem Stiefbruder Andy an einen günstigeren Ort zu verlegen...
Aber ich bin nicht allwissend. Ich möchte aus meiner subjektiven und somit begrenzten Sicht etwas erzählen über den lange zurückliegenden Sommer, der ein Teil meiner eigenen Lebensgeschichte ist. Es ist die konfliktlastige Beschreibung vom Zusammentreffen dreier Menschen mit unterschiedlicher Prägung: Ein Realist, ein Idealist und ein grantiger Zyniker verbringen einige Tage in einem Haus auf dem Lande. Ich will versuchen, die merkwürdigen Ereignisse dieser Begegnung in Worte zu fassen. Mein Interesse für Menschen und die oft verborgenen Beweggründe ihres Handelns war in der Zeit meines neunzehnten Lebensjahres nur schwach entwickelt. Tiefgreifende Reflexionen über die prägenden Faktoren in der Lebensgeschichte anderer Leute, die mir begegneten, beschäftigten mich nicht. Die wesentlichste Erfahrung dieses Sommers