Zwielicht Classic 13. Michael Schmidt
Vorwort 5
Liebe Leser,
die 13. Ausgabe liegt vor Ihnen und erschien doch schneller als erwartet. Den Leser giert es nach Zwielicht Classic. Anders kann ich mir die enthusiastischen Rückmeldungen der letzten beiden Ausgaben nicht erklären.
Andererseits behaupten viele, die Zahl 13 bringe Unglück. Sie als Leser unheimlicher Literatur werden sowas natürlich als vollkommenen Nonsens deklarieren.
Oder etwa nicht?
Vielleicht ist es auch der Fluch der 13, der dafür sorgte, dass der Band früh im Jahr erscheint. Man soll seiner Angst ins Gesicht blicken, so heißt es, also macht man kurzen Prozess mit ihr.
Der Band ist jetzt da. Und weder ging die Welt unter, noch brennen Städte oder ganze Landstriche.
Auch die Horrorszene wächst und gedeiht und in Marburg, dem alljährigen Treffen der Fans unheimlicher Literatur wird schon zum elften Mal der Vincent Preis verliehen. Noch weit weg von der unheimlichen 13, aber doch in Reichweite.
Dieser Band ist eine konsequente Weiterentwicklung. Oder auch nicht. Der Fluch der 13 hat sich dem angefangenen Weg, sich mehr der düsteren Science Fiction zu öffnen, entgegengesetzt.
Die 13 hat den Herausgeber verzaubert und so nur Operation Heal, der KLP nominierten Geschichte von Merlin Thomas, einen Platz beschert.
Alle anderen Geschichten sind das, was man von einer Publikation von Zwielicht Classic erwarten darf. Das es sich dabei um fast ausschließlich klassische Stoffe handelt, war dagegen eher dem oben geschilderten Fluch zu verdanken. Der Herausgeber schwört Stein und Bein, die Auswahl hat sich verselbstständigt.
Franz Kafka, Friedrich Glauser und Willy Seidel haben sich aus ihrem feuchten Grab erhoben und sich in den finsteren Ecken meiner Seele breitgemacht und so diese Ausgabe bevölkert.
Einer von den Autoren, nämlich Willy Seidel, hat auch im wirklichen Leben düstere Seiten gehabt. Trotz dessen Sympahtien für die braune Suppe habe ich mich entschieden, Alarm im Jenseits aufzunehmen. Die Geschichte hat es verdient. Sie selbst atmet nicht diesen reallen Horror einer unwürdigen Ideologie.
Natürlich sind Geschichten aus der Zeit vor dem Nationalsozialismus immer ein wenig zwiespältig. Dort galten oft genug Farbige als Untermenschen und Frauen als minderwertig, auch wenn dies meist nur angedeutet wird.
Passend zum Thema, wenn auch auf andere Weise, ist Regina Schlehecks Dölfchens wunderbarer Waschsalon. Die Geschichte gewann den Corona Kurzgeschichtenwettbewerb und wie ich finde auch völlig zurecht.
Karin Reddemanns Blutrot die Lippen, blutrot das Lied sowie Markus K. Korbs Carnevale a Venezia sind nicht nur sehr lesenswert, sondern fügen sich nahezu perfekt zu den klassischen Texten.
Auch Die Zeitung von morgen bietet Skurilles, dass auch aus den Pulp Magazinen der vierziger Jahre entschlüpft sein könnte.
Zur Abrundung gibt es Nadine Muriels Frau Birger, ich hoffe, die Angst vor Spinnen hält sie nicht von der Lektüre ab.
Der Artikelteil hält neben einer weiteren Folge der Dunklen Muse auch die Abgründe eines Weißkittels bereit.
Und sollte etwas mit dieser 13. Ausgabe passieren, sollte sie sich in ihre Bestandteile auflösen, oder der Druck seine Farbe verlieren; oder sollten Sie in in irgendeiner anderen Art und Weise nach der Lektüre vom Pech verfolgt sein, tragen Sie es mit Fassung.
Dann bin ich den Fluch wieder losdgeworden und das sollte Ihnen die Hoffnung geben, es mir gleich zu tun. Üben Sie sich in Geduld und vielleicht hilft auch der Besuch einer Kirche.
Aber die 13 ist ja nur irgendeine Zahl. Viel Vergnügen bei der Lektüre wünscht,
Karin Reddemann – Blutrot die Lippen, blutrot das Lied (2017) 7
Maris war zweifellos genial. Ein Meister.
Ein Mörder war er auch. Vielleicht hat er es nur einmal getan. Vielleicht tatsächlich so oft, dass der Wind ihm seine Tränen ins Gesicht gepeitscht hat, damit das Orchester ihn hört. Wie er singt. Schreit. Weint. Wie er singt. Mitsingt, um das da unten, das hoch oben in der Stimme auf seine furchtbare Art streicheln zu können. So furchtbar. So diabolisch schön.
Maris ist lange schon tot. Er war spektakulär. Wer die Augen schloss, vernahm den Flügelschlag des Schmetterlings. Das Stöhnen der Aphrodite. Die gesummten Wünsche der Ungeborenen.
Und doch wäre das allein nicht genug, seine ganz besondere, wenn auch kurze Geschichte zu schreiben. Viele sind von den Göttern geküsst worden und haben sich an ihrem Speichel vergiftet. Ein schleichender Tod, der den Tanz auf den Wolken begleitet. So geht das Spiel. Wir sehen erstaunt zu, nicken, gehen weiter.
Blutrot die Lippen, blutrot das Lied …
Maris verdient eine spezielle Aufmerksamkeit. Er verschwand wie seine Wahrheit, als wären er und sie nie gewesen. Er hätte die Welt gern weiter träumen lassen von einem Zauberer wie ihm. Aber wäre das alles tatsächlich geschehen, würden sie vor ihm grauen. Wäre … oder war es?
Diese Welt, sie hatte ihn umjubelt, beneidet, sie hatte um ihn geweint. Sie hätte ihn nicht verstanden, wäre er gegangen als einer von denen, die viel zu menschlich sind, um immer nur gut zu sein. Sie hätte über ihn geurteilt, wäre bereit gewesen, ihn in die Gosse, in den Kerker, in die Schlangengrube zu werfen. Offiziell hätte sie Mitleid geheuchelt.
„Armer Junge. Trotzdem.“ Dann hätte das Entsetzen, die Empörung ihn gefressen. „Und trotzdem. Wie kann man nur? Bestie. Bestie!“
Maris war anders. Anders als sie. Er gehörte zu den Gebrandmarkten, die nie verloren gehen, weil sie Erinnerung bleiben. Wenn er tanzte, ganz für sich allein, sein imaginäres Ebenbild in den Armen, fasste er sich zwischen die Beine und drückte zu, so fest, dass es schmerzte. Dann fühlte er sich lebendig und quälte sich lächelnd, wohlwissend, dass es nicht perfekt war.
Sie schnitten Hoden ab. Das gehörte zum guten italienischen Ton. Die glockenhellen Stimmen blieben, das war eine phantastische Sache, die einfach passierte. Die Knaben wurden in den Keller geschleppt und betrunken gemacht, um nicht erzählen zu können. Verbluteten sie, schrie niemand nach Gott oder dem Teufel, nur sie selbst hörte man nach ihren Müttern brüllen, wenn die Flammen schwiegen.
Maris hatte dieses Glück, das sich so nennen darf, weil die Sonne es nicht verbrennt. Frauen durften nicht auf die Bühne. Er schon. Er konnte. Musste, das war der Lauf der Dinge. Er wollte es auch. Er war schön. Man sagte es ihm.
Seine Haut war weiß gepudert, das blonde Haar engelsgleich. Während er seine langen Handschuhe überzog, betrachtete er sich im Spiegel und dachte an seine Großmutter. Sie drückte ihm ihren dicken Busen ins Gesicht, umarmte ihn, flüsterte: „Wein nicht, Goldjunge.“
Als der Schuster Marcello seinem Sohn die Männlichkeit nehmen ließ, war er sich sehr wohl bewusst, dass das nicht richtig war. Da war dieser Mann aus der Stadt, der ihn mitnehmen wollte, da war das Geld. Der Kerl, der schnitt, stank nach Schnaps und dreckiger Kälte. Er bescherte Marcello gute Jahre. Irgendwann sang Maris allein, stand völlig allein da vorn wie der Priester am Altar, und die Meute kniete und betete. Die Frauen waren verrückt nach ihm. Seine Stimme, sein Gesicht waren das Meer, in dem sie nach Austern tauchten, um Perlen zu sammeln für diese unerträglich kostbare Ewigkeit, die nur geträumt war. Marcello freute das.
„Liebt ihn“, sagte er ihnen. „Er ist nicht vollkommen. Dann kommt mit mir. Wir machen ihm seine Kinder.“
Marcellos Leiche wurde in der Garderobe seines Sohnes aufgefunden, nachdem Maris ein letztes Mal auf der Bühne gestanden hatte. Die Hose war bis zu den Knöcheln hinuntergezogen, die Hoden fehlten, der Unterleib schwamm im Blut. „Grauenhaft, ganz grauenhaft“, schrien sie und glotzten fassungslos. Der Vater lag dort mit zerfetzter Kehle und staunenden