Lysistratos oder Der Traum von Freiheit. T.F. Carter

Lysistratos oder Der Traum von Freiheit - T.F. Carter


Скачать книгу
Sie war eine alte, erfahrene Arbeiterin, etwas jünger als Rosenduft und Walburga. Auch sie hatte die letzte Große Kälte erlebt, und Lysistratos hatte Chalice oft beobachtet, wenn sie den Großen Töchtern oder den jüngeren Arbeiterinnen berichtete, was sie von der Welt vor dem Flugloch wusste.

      „Du kleine Drohne hast einen großen Eindruck auf Xenia gemacht. Und auch auf Chalice. Beide haben sich nicht an dem Gemetzel an euch Drohnen beteiligt.“

      „Aber die anderen…“

      „Nicht alle, Lysistratos, aber das weißt du ja nicht. Dann höre, was du angerichtet hast. Die meisten Arbeiterinnen folgten dem Befehl meiner Mutter Rubinrot. Arbeiterinnen müssen gehorchen. Sonst funktioniert der Staat nicht. Xenias Handlung, dich zu retten, war ein schwerer Verstoß gegen das Gebot einer Königin. Das ist todeswürdig!“

      Lysistratos zuckte zusammen, fragte dann aber vorsichtig: „Aber… Ihr seid anders?“

      „Ich bin jetzt selbst eine Königin, mein kleiner Drohn. Aber auch ich werde Aufruhr nicht dulden. Doch höre weiter. Einige der Arbeiterinnen haben sich in einen wahren Blutrausch gekämpft. Sie waren erregt. Andere Arbeiterinnen hielten sich zurück, beseitigten die toten Drohnen. Und dann gab es einige wenige Arbeiterinnen, die sagten: „Wir töten die Drohnen, weil sie leben wollten? Ich bin Arbeiterin, aber ich hätte auch eine Königin sein können. Warum bin ich keine Königin?“

      „Das haben sie gemacht?“

      „O ja. Deine Handlung hat offenbar Gedanken freigesetzt, die schon lange vorhanden waren. Meine Mutter proklamierte, dass sie entscheide, wer was wird, und dann sagte eine Arbeiterin, das sei aber nicht gerecht.“

      „Es ist auch nicht gerecht, Königin Amalthea.“

      „So ist das Leben, Lysistratos. Ich entscheide für jedes einzelne Ei, was es wird. Weiblich oder männlich. Ich entscheide, ob ein Ei befruchtet wird oder nicht. Und das Füttern ist ausschlaggebend dafür, ob ein Weibchen eine Große Tochter oder eine Arbeiterin wird. Allerdings: Ausschließlich Große Töchter könnten nicht überleben. Nur Arbeiterinnen sterben aus. Nur Drohnen verhungern. Die Aufgabe einer Königin ist es, alles im Gleichgewicht zu halten.“

      „Ja, aber…“

      „Hör zunächst weiter. Meine Mutter befahl nun, diese aufmüpfigen Arbeiterinnen zu arrestieren, und es kam zu einem weiteren Kampf, nun zwischen echten Kriegerinnen. Diejenigen im Blutrausch hingegen haben nicht mitbekommen, worum es eigentlich ging. Und plötzlich kämpfte jede gegen jede.“

      „Oh, großer Bienengott, das ist ja grässlich!“

      „Das ist es, Lysistratos. Meine Mutter wurde schwer verwundet, Rosenduft ist gestorben, als sie ihre Freundin Walburga aus den Beißwerkzeugen einer blutrünstigen jungen Kriegerin retten wollte und gestochen wurde. Xenia und Chalice sind nur mit Mühe entkommen. Unser altes Volk ist schwer geschädigt.“

      „Das wollte ich nicht…“

      „Das glaube ich dir, aber du hast die Gesetze der Natur außer Kraft setzen wollen. Und Unvorhersehbares ausgelöst. Einige von euch Drohnen haben andere Völker erreicht und eure Gedanken in die dortigen Drohnen gesetzt. Überall gärt es. Aber niemand hat einen Plan, was eigentlich sein soll. Wie soll es eigentlich sein, Lysistratos?“

      „Ich… weiß es nicht. Ich wollte nur leben.“

      „Und du hast den Tod gebracht.“

      Wütend trat Lysistratos einen Schritt zurück: „Den Tod haben sonst nur wir Drohnen zu ertragen!“

      Amalthea drehte sich fort, ohne eine Antwort zu geben, legte ein Ei und schob es in eine Wabe, die sie anschließend sorgfältig verschloss.

      „Königin, darf ich Euch etwas fragen?“

      „Was möchtest du wissen?“

      „Werdet Ihr so sein wie Eure Mutter?“

      Nachdenklich betrachtete die junge Königin den Drohn. Dann sagte sie: „Ich weiß es nicht. Ich habe niemals gewusst, dass ihr Drohnen überhaupt denken könnt. Ich meine, ihr könnt ja nicht einmal allein essen.“ Sie zwinkerte ihm mit den Fühlern zu, um die Aussage abzuschwächen. „Tatsache ist, auch ich werde Drohnen zur Welt bringen. Ich brauche Drohnen, damit mein Volk weiterleben kann. Damit wir Bienen weiterleben können. Wenn ein Teil nicht mitspielt, endet das Leben für alle.“

      „Das heißt, Einzelne, die Drohnen, müssen sich opfern, damit die anderen überleben können?“

      „Hast du eine andere Idee, Lysistratos? Xenia, meine Schwester, hat mir berichtet, dass sie sich auf ihrem Weg hierher in dein Denken hineinversetzt hat. Ein absurder Gedanke, wie ich finde. Aber sie sagt, sie kann verstehen, was dich bewegt.“

      „Dann ändern wir etwas gemeinsam!“

      „Und was? Lysistratos, ganz ehrlich, auch wenn ich dich mittlerweile nicht nur amüsant finde, sondern dich irgendwie mag, es ist für ein Bienenvolk nicht möglich, Drohnen dauerhaft durchzufüttern. Drohnen sind zum Befruchten da. Wenn wir kontinuierlich Drohnen füttern, ohne dass es ausschwärmende Große Töchter gibt, schwächt das das Volk.“

      „Ich finde…“

      „Xenia hat sich in dich hineinversetzt, nun, du denkende Drohne, tue das einmal andersherum. Es mag anspruchsvoll für dich sein…“

      „Wenn man uns Drohnen mehr erzählen würde, könnten wir auch nützlicher sein!“

      „Ach“, schnaubte Amalthea, „und als was? Ihr könnt nicht sammeln, nicht die Brut pflegen, euch nicht selbst ernähren. Und selbst falls ihr das schafft, ist es nicht effizient genug. Es schwächt den Staat, das Volk, Lysistratos. Es geht nicht um dich oder eine bestimmte Arbeiterin. Wir sind Bienen!“

      „Aber jede einzelne Biene möchte auch leben!“

      „Das habe ich begriffen. Das war neu für mich.“ Amalthea wandte sich ab, legte ein weiteres Ei und verstaute es in einer anderen freien Wabe. „Nun ist genug“, sagte sie. „Mein Kopf schwirrt, und ich muss mein Nest vergrößern, bevor die ersten Arbeiterinnen schlüpfen und ich die Larven füttern muss.“

      „Muss ich gehen?“

      „Solange du mir nicht im Weg stehst, darfst du bleiben. Xenia kommt bestimmt noch einmal vorbei.“

      Längst war Lysistratos in einer Ecke des neuen Stockes eingeschlafen. Es war kalt und zugig, er konnte sich nicht an seinen Kameraden wärmen, und er war dankbar, als er spürte, wie Amalthea, als sie sich selbst schlafen legte, sich an ihn kuschelte. Und so schrak er zusammen, als die junge Königin plötzlich aufsprang und „Wer da?“ rief.

      „Ich bin’s“, flüsterte eine zarte Stimme vom Flugloch her. „Xenia. Chalice ist bei mir.“

      „Na, dann kommt mal herein“, winkte Amalthea. „Ich habe einen Gast hier, den ich dann gerne an dich weitergeben möchte.“

      „Lysistratos?“ Xenias Stimme vibrierte, und der Drohn hatte sich kaum aufgerichtet, als er spürte, wie Xenias Fühler über die seinen glitten. Noch nie hatte er Derartiges erlebt.

      „Oh!“ amüsierte sich Amalthea. „Wenn das unsere Mutter sehen würde.“

      „Unsere Mutter hat ganz andere Sorgen.“

      „Das möchte ich wohl meinen“, ließ sich Chalice vernehmen, die am Flugloch saß und die Szene im Halbdunkel des unfertigen Baus beobachtete. „Es geht ihr nicht gut, und es ist nicht sicher, ob sie genügend Eier legen wird, damit das Volk erneut über die Große Kälte kommt.“

      „Es tut mir leid“, murmelte Lysistratos.

      „Das sagt er ständig“, warf Amalthea ein.

      „Das ist nicht deine Schuld“, sagte Xenia.

      Lysistratos beobachtete, wie nun auch die beiden königlichen Schwestern Zärtlichkeiten austauschten, bevor Xenia sich erneut zu ihm drehte: „Ich habe einen Platz gefunden, an


Скачать книгу