Sein Traum von Harmonie. Jürgen Heiducoff

Sein Traum von Harmonie - Jürgen Heiducoff


Скачать книгу
Realität der Arbeit in den überalterten Braunkohlewerken und Tagebauen. Enorm ist der Aufwand, um zur fünfzehn Kilometer entfernten Arbeitsstelle zu gelangen. Es fahren keine Busse von seinem Dorf hinüber zur alten Brikettfabrik. Er muss also bei Wind und Wetter über einen provisorisch errichteten Pleißendamm über Schlamm und Geröll hinüber zur Fabrik. Dort arbeiten noch die Kohlepressen der Firma Siemens aus den 1920er Jahren. Schweißgebadet erscheint er in der Waschkaue der alten Zeche. Die Luft ist kohlenstaubhaltig und geprägt durch den spezifischen Geruch.

      Während der Reparaturarbeiten in der Kälte erweisen sich die Filzstiefel und die grauen oder dunkelblauen Wattejacken als sehr hilfreich. Todmüde sinkt er jeden Abend schnell in den Schlaf. Es ist eine Schinderei. Und das soll einer sein ganzes Leben durchhalten? Anders die theoretische Ausbildung. Mathe und Physik sind seine Lieblingsfächer und er beginnt an einem Physikzirkel an der Leipziger Karl-Marx-Universität teilzunehmen. Ein Studium der Physik wird immer konkreter.

      Aber schließlich wird Jura klar, dass seine Mutter ihn nicht für drei oder vier Jahre Studium alimentieren kann. Er hat mit ihr nie darüber gesprochen. Ist dem Thema immer ausgewichen.

      Ein Traum bricht weg. Er sucht nach Ablenkung und Ausgleich in den Ferien. Die ersten jungen Mädchen treten in sein Leben. Zu Fuß geht Jura regelmäßig an den Wochenenden die zehn Kilometer bis zur nächsten größeren Musik- und Tanzveranstaltung. Es ist noch nicht die Zeit der Diskos. Im Leipziger Umland spielen Bands, die in der Stadt selbst Auftrittsverbot haben. Oft wird die Vorgabe, sechzig Prozent Ost- und nur vierzig Prozent Westmusik, nicht eingehalten. So sehr ihn auch die dröhnende Musik beeindruckt – es sind weitere Reiseplanungen, die seine Freizeit dominieren. Zunächst geht es mit dem Rennrad, gemeinsam mit zwei Freunden durch Schlesien bis in die Hohe Tatra.

      Große Neugier treibt ihn in die Weiten Südpolens - auf der Suche nach einem weiteren Stück Wahrheit, das ihm und den meisten im Osten vorenthalten wird. In den Dörfern des weitgehend vom Tourismus abgeschnittenen wildromantischen Bieszczady – Gebirges, das zu den Waldkarpaten führt, lernt er Menschen kennen, die nicht nur ungewohnt gastfreundlich sind, sondern auch viel über die Repressalien der Kommunisten und der Warschauer Regierung zu erzählen haben. Hier sind über 20 Jahre nach dem Krieg noch immer die Spuren eines Bürgerkrieges nach dem großen Krieg zu sehen. Die Spannungen zwischen Ukrainern und Polen in dieser Region sind noch lange nicht beigelegt. Davon wird in der DDR nichts berichtet. Jura erlebt die ihm bisher so nicht bekannte herzergreifende Gastfreundschaft der einfachen Leute in den Gebirgsdörfern. Sie haben selbst nicht viel. Aber er und sein Freund bekommen die gute Stube als Gästezimmer angeboten.

      Es ist das Leben in den Dörfern, das Jura interessiert und nachhaltig motiviert.

      Über Sanok und Przemysl verlässt Jura tief beeindruckt die Region. Die Reise gibt ihm neue Kraft und Inspirationen. Sein Traum von Harmonie relativiert sich. Der steinige Weg zu Harmonie und Eintracht fordert unglaubliche Kraft und Ausdauer. Es bedarf offensichtlich vieler Faktoren und Maßnahmen sowie viel Zeit, um den Hass und die Vorbehalte zwischen den vom Krieg gezeichneten Menschen zu überwinden.

      Abneigung gegenüber Kriegsspielen, Lagerleben und militärischer Ausbildung

      Bereits als Junge widern Jura die Kriegs- und Bandenspiele der anderen Halbwüchsigen an. Selbst das kollektive Spielen im Hort widerstrebt ihm.

      Eine besondere Abneigung empfindet Jura auch gegenüber Kinderferienlagern. Mutter ist interessiert, Jura sicher in den Ferien untergebracht zu wissen. Jedoch dieses kollektive Lagerleben mit den Fahnenappellen, Sportwettkämpfen und zentralen Maßnahmen ist dem Jungen zuwider.

      Jura muss auch an der vormilitärischen Ausbildung der Gesellschaft für Sport und Technik (GST) teilnehmen. Dies ödet ihn an. Er zieht diese Ausbildung ins Lächerliche. Er fürchtet, dass das militärische und technische Interesse der Jugend leicht missbraucht werden könne. Wer garantiert, dass dies nicht ausartet? Die Partei? Jura hat Sorge, dass das Militär unkontrolliert erstarkt. In den 1960er Jahren ist die Militarisierung der Gesellschaft unübersehbar. Das bereits anhaltende Wettrüsten ist kein gutes Zeichen.

      Erste weltanschauliche Orientierung

      Dank seines Großvaters und anderer Veteranen der Arbeiterbewegung in der Region hat die Theorie des dialektischen und historischen Materialismus von Jura im wahrsten Sinne des Wortes Besitz ergriffen. Mit Begeisterung liest er entsprechende Literatur. Dabei beschränkt er sich nicht nur auf Marx, Engels, Hegel und Feuerbach. Er verschlingt förmlich Goethes Faust. So wird allmählich ein überzeugter Anhänger des Marxismus aus unserem Jura. Das theoretische Konstrukt des dialektischen Materialismus überzeugt ihn. Allerdings hat er erhebliche Zweifel daran, ob die gesellschaftliche Praxis in der damaligen DDR dieser Theorie entspricht.

      Jura verspürt immer den Wunsch zu prüfen, nichts einfach so hinzunehmen. Gratis-Vertrauen reicht ihm nicht aus. Er will mehr als nur nachplappern was die Lehrer und Ausbilder sagen. Er streitet für seine Überzeugung. Immer im Blick dabei – die Vision einer harmonischen Welt. Meinungsstreit, Widersprüche und der Traum von Harmonie schließen sich nach Juras Auffassung nicht gegenseitig aus.

      Jura plant seine Aufnahme als Kandidat der Sozialistischen Einheitspartei zu forcieren. Dies vor allem auch um politisch zu provozieren. Es gelingt ihm, bereits mit 17 Jahren Kandidat dieser Partei zu werden. Die entsprechenden Bürgschaften von Veteranen der Partei machen das möglich.

      Jura bereitet eine Serie von Vorstößen gegen Althergebrachtes und Routine in der Parteiarbeit seines Lehrbetriebes vor. Er hält sich selten an Beschlüsse und macht, was er für richtig hält. Jura bringt frischen Wind in den Parteialltag, entwickelt sich zum unbequemen Querulanten und fühlt sich in dieser Rolle wohl. Er wird zu Delegiertenkonferenzen entsandt. Da missfällt ihm, dass alle Reden und Vorträge zur Prüfung eingereicht werden mussten. Er meldet sich spontan zu Wort, bekommt das Rednerpult zugeteilt, spricht frei und engagiert, manchmal vom Temperament überwältigt, von seinen Visionen und erntet Beifall.

      Nun befürchtet er nur, dass man ihm anhand seiner eigenen Engpässe in der Lerntätigkeit die Grenzen seiner Eigenmächtigkeiten zeigt. Doch genau das Gegenteil passiert. Er wird in Schule und Betrieb gefördert und über die Maßen gelobt. Obwohl es ihm gut tut bleibt ein Rest an Skepsis – wo dies denn hinführen soll. Er wird zum besten Schüler gekürt, obwohl dafür keine objektiven Kriterien vorliegen. Er wird bei Leistungskontrollen nicht mehr gefordert. Alles läuft im Selbstlauf. Liegt es daran, dass er in die Partei eintreten will und in Aussicht gestellt hat, Offizier der Nationalen Volksarmee zu werden?

      Inzwischen ist Großvater sehr krank und bräuchte Beistand und Pflege. Der Arbeiterveteran, der jüngst noch in den Schulen über die Kämpfe der Bergarbeiter berichtete und auf Gewerkschaftsversammlungen auftrat, ist vergessen – von den eigenen Genossen. Es findet sich kein Platz in einem Pflegeheim. Die Dorfkrankenschwester schaut nur gelegentlich bei ihm vorbei. Um Essen und Heizung kümmert sich Jura. Er sieht den einst stolzen Großvater jämmerlich dahin siechen. In seinem Zimmer stinkt es entsetzlich nach Kot und Urin. Unerträglich. Unmenschlich.

      Der jugendliche Jura ist schnell mit Verallgemeinerungen und meint, dieser Sozialismus ist nicht human.

      Großvaters letzte Wochen prägen Jura für den Rest des Lebens. Ideale beginnen zu schwanken und Träume erstarken.

      Da der Wunsch Physik zu studieren nicht realisierbar ist, schaut sich Jura nach anderen Perspektiven um. Dies führt ihn auch zum Wehrkreiskommando. Dort wird ihm mit Hochglanzbroschüren und den üblichen Werbesprüchen eine rosige Zukunft suggeriert. Und Jura schaut genauer hin und ist nicht mehr abgeneigt, ein Studium an der Offiziershochschule der Luftstreitkräfte/Luftverteidigung in Kamenz zu beginnen. Er drängt die eigene Ablehnung des Militärischen zurück. Oh, wenn dies Großvater wüsste. Aber der ist inzwischen verstorben.

      Jura sitzt neben dem IFA – Salon im sächsischen Borna mit der Bestätigung seiner Bestellung eines Pkw Skoda in der Hand und träumt. In sechs Jahren könnte er Besitzer eines dieser flotten Fahrzeuge sein. Er würde seine Briefmarkensammlung verkaufen, um an etwas Geld zu kommen, träumt er. Er kann nicht ahnen, dass sich


Скачать книгу