Der Antichrist. FRIEDRICH NIETZSCHE

Der Antichrist - FRIEDRICH  NIETZSCHE


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in allem und jedem, die Widernatur als Instinkt, die deutsche décadence als Philosophie — das ist Kant! —

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      Ich nehme ein paar Skeptiker beiseite, den anständigen Typus in der Geschichte der Philosophie: aber der Rest kennt die ersten Forderungen der intellektuellen Rechtschaffenheit nicht. Sie machen es allesamt wie die Weiblein, alle diese großen Schwärmer und Wundertier, — sie halten die „schönen Gefühle“ bereits für Argumente, den „gehobenen Busen“ für einen Blasebalg der Gottheit, die Überzeugung für ein Kriterium der Wahrheit. Zuletzt hat noch Kant, in „deutscher“ Unschuld, diese Form der Korruption, diesen Mangel an intellektuellem Gewissen unter dem Begriff „praktische Vernunft“ zu verwissenschaftlichen versucht: er erfand eigens eine Vernunft dafür, in welchem Falle man sich nicht um die Vernunft zu kümmern habe, nämlich wenn die Moral, wenn die erhabne Forderung „du sollst“ laut wird. Erwägt man, daß bei fast allen Völkern der Philosoph nur die Weiterentwicklung des priesterlichen Typus ist, so überrascht dieses Erbstück des Priesters, die Falschmünzerei vor sich selbst, nicht mehr. Wenn man heilige Aufgaben hat, zum Beispiel die Menschen zu bessern, zu retten, zu erlösen, — wenn man die Gottheit im Busen trägt, Mundstück jenseitiger Imperative ist, so steht man mit einer solchen Mission bereits außerhalb aller bloß verstandesmäßigen Wertungen, — selbst schon geheiligt durch eine solche Aufgabe, selbst schon der Typus einer höheren Ordnung! ... Was geht einen Priester die Wissenschaft an! Er steht zu hoch dafür! — Und der Priester hat bisher geherrscht! — Er bestimmte den Begriff „wahr“ und „unwahr“! ...

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      Unterschätzen wir dies nicht: wir selbst, wir freien Geister, sind bereits eine „Umwertung aller Werte“, eine leibhaftige Kriegs— und Siegs-Erklärung an alle alten Begriffe von „wahr“ und „unwahr“. Die wertvollsten Einsichten werden am spätesten gefunden; aber die wertvollsten Einsichten sind die Methoden. Alle Methoden, alle Voraussetzungen unsrer jetzigen Wissenschaftlichkeit haben Jahrtausende lang die tiefste Verachtung gegen sich gehabt: auf sie hin war man aus dem Verkehre mit „honetten“ Menschen ausgeschlossen, — man galt als „Feind Gottes“, als Verächter der Wahrheit, als „Besessener“. Als wissenschaftlicher Charakter war man Tschandala ... Wir haben das ganze Pathos der Menschheit gegen uns gehabt — ihren Begriff von Dem, was Wahrheit sein soll, was der Dienst der Wahrheit sein soll: jedes „du sollst“ war bisher gegen uns gerichtet ... Unsre Objekte, unsre Praktiken, unsre stille, vorsichtige, mißtrauische Art — alles das schien ihr vollkommen unwürdig und verächtlich. — Zuletzt dürfte man, mit einiger Billigkeit, sich fragen, ob es nicht eigentlich ein ästhetischer Geschmack war, was die Menschheit in so langer Blindheit gehalten hat: sie verlangte von der Wahrheit einen pittoresken Effekt, sie verlangte insgleichen vom Erkennenden, daß er stark auf die Sinne wirke. Unsre Bescheidenheit ging ihr am längsten wider den Geschmack ... O wie sie das errieten, diese Truthähne Gottes —

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      Wir haben umgelernt. Wir sind in allen Stücken bescheidner geworden. Wir leiten den Menschen nicht mehr vom „Geist“, von der „Gottheit“ ab, wir haben ihn unter die Tiere zurückgestellt. Er gilt uns als das stärkste Tier, weil er das listigste ist: eine Folge davon ist seine Geistigkeit. Wir wehren uns andrerseits gegen eine Eitelkeit, die auch hier wieder laut werden möchte: wie als ob der Mensch die große Hinterabsicht der tierischen Entwicklung gewesen sei. Er ist durchaus keine Krone der Schöpfung: jedes Wesen ist, neben ihm, auf einer gleichen Stufe der Vollkommenheit ... Und indem wir das behaupten, behaupten wir noch zuviel: der Mensch ist, relativ genommen, das mißratenste Tier, das krankhafteste, das von seinen Instinkten am gefährlichsten abgeirrte — freilich, mit alledem, auch das interessanteste! — Was die Tiere betrifft, so hat zuerst Descartes, mit verehrungswürdiger Kühnheit, den Gedanken gewagt, das Tier als machina zu verstehn: unsre ganze Physiologie bemüht sich um den Beweis dieses Satzes. Auch stellen wir logischerweise den Menschen nicht beiseite, wie noch Descartes tat: was überhaupt heute vom Menschen begriffen ist, geht genau so weit, als er machinal begriffen ist. Ehedem gab man dem Menschen, als seine Mitgift aus einer höheren Ordnung, den „freien Willen“: heute haben wir ihm selbst den Willen genommen, in dem Sinne, daß darunter kein Vermögen mehr verstanden werden darf. Das alte Wort „Wille“ dient nur dazu, eine Resultante zu bezeichnen, eine Art individueller Reaktion, die notwendig auf eine Menge teils widersprechender, teils zusammenstimmender Reize folgt: — der Wille „wirkt“ nicht mehr, „bewegt“ nicht mehr ... Ehemals sah man im Bewußtsein des Menschen, im „Geist“, den Beweis seiner höheren Abkunft, seiner Göttlichkeit; um den Menschen zu vollenden, riet man ihm an, nach der Art der Schildkröte die Sinne in sich hineinzuziehn, den Verkehr mit dem Irdischen einzustellen, die sterbliche Hülle abzutun: dann blieb die Hauptsache von ihm zurück, der „reine Geist“. Wir haben uns auch hierüber besser besonnen: das Bewußtwerden, der „Geist“, gilt uns gerade als Symptom einer relativen Unvollkommenheit des Organismus, als ein Versuchen, Tasten, Fehlgreifen, als eine Mühsal, bei der unnötig viel Nervenkraft verbraucht wird, — wir leugnen, daß irgend etwas vollkommen gemacht werden kann, so lange es noch bewußt gemacht wird. Der „reine Geist“ ist eine reine Dummheit: rechnen wir das Nervensystem und die Sinne ab, die „sterbliche Hülle“, so verrechnen wir uns — weiter nichts! ...

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      Weder die Moral noch die Religion berührt sich im Christentume mit irgend einem Punkte der Wirklichkeit. Lauter imaginäre Ursachen („Gott“, „Seele“, „Ich“, „Geist“, „der freie Wille“ — oder auch „der unfreie“); lauter imaginäre Wirkungen („Sünde“, „Erlösung“, „Gnade“, „Strafe“, „Vergebung der Sünde“). Ein Verkehr zwischen imaginären Wesen („Gott“, „Geister“, „Seelen“); eine imaginäre Naturwissenschaft (anthropozentrisch; völliger Mangel des Begriffs der natürlichen Ursachen); eine imaginäre Psychologie (lauter Selbst-Mißverständnisse, Interpretationen angenehmer oder unangenehmer Allgemeingefühle, zum Beispiel der Zustände des nervus sympathicus, mit Hilfe der Zeichensprache religiös-moralischer Idiosynkrasie, — „Reue“, „Gewissensbiß“, „Versuchung des Teufels“, „die Nähe Gottes“); eine imaginäre Teleologie („das Reich Gottes“, „das jüngste Gericht“, „das ewige Leben“). — Diese reine Fiktions-Welt unterscheidet sich dadurch sehr zu ihren Ungunsten von der Traumwelt, daß letztere die Wirklichkeit widerspiegelt, während sie die Wirklichkeit fälscht, entwertet, verneint. Nachdem erst der Begriff „Natur“ als Gegenbegriff zu „Gott“ erfunden war, mußte „natürlich“ das Wort sein für „verwerflich“, — jene ganze Fiktions-Welt hat ihre Wurzel im Haß gegen das Natürliche (— die Wirklichkeit! —), sie ist der Ausdruck eines tiefen Mißbehagens am Wirklichen ... Aber damit ist alles erklärt. Wer allein hat Gründe, sich wegzulügen aus der Wirklichkeit? Wer an ihr leidet. Aber an der Wirklichkeit leiden heißt eine verunglückte Wirklichkeit sein ... Das Übergewicht der Unlustgefühle über die Lustgefühle ist die Ursache jener fiktiven Moral und Religion: ein solches Übergewicht gibt aber die Formel ab für décadence ...

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      Zu dem gleichen Schlusse nötigt eine Kritik des christlichen Gottesbegriffs. — Ein Volk, das noch an sich selbst glaubt, hat auch noch seinen eignen Gott. In ihm verehrt es die Bedingungen, durch die es obenauf ist, seine Tugenden, — es projiziert seine Lust an sich, sein Machtgefühl in ein Wesen, dem man dafür danken kann. Wer reich ist, will abgeben; ein stolzes Volk braucht einen Gott, um zu opfern ... Religion, innerhalb solcher Voraussetzungen, ist eine Form der Dankbarkeit. Man ist für sich selber dankbar: dazu braucht man einen Gott. — Ein solcher Gott muß nützen und schaden können, muß Freund und Feind sein können, — man bewundert ihn im guten wie im schlimmen. Die widernatürliche Kastration eines Gottes zu einem Gotte bloß des Guten läge hier außerhalb aller Wünschbarkeit. Man hat den bösen Gott so nötig als den guten: man verdankt ja die eigne Existenz nicht gerade der Toleranz, der Menschenfreundlichkeit ... Was läge an einem Gotte, der nicht Zorn, Rache, Neid, Hohn, List, Gewalttat kennte? dem vielleicht nicht einmal die entzückenden ardeurs des Siegs und der Vernichtung bekannt wären? Man würde einen solchen Gott nicht verstehn: wozu sollte man ihn haben? — Freilich: wenn ein Volk zugrunde


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