Der Waldläufer. Gabriel Ferry
Dieses Gold will ich zu Euren Füßen legen, oder ich werde, wenn ich nicht wieder von dort zurückkomme, zu den Toten zu zählen sein.«
Tiburcio wartete auf die Antwort Rosaritas; diese Antwort erschütterte seine Sinne wie ein Totengeläut. »Ich will gern glauben, daß dies Eurerseits eine List ist, um mich auf die Probe zu stellen«, sagte das junge Mädchen mit einem Lächeln, dem das nächtliche Halbdunkel noch einen Reiz mehr verlieh, das aber das Herz des armen Tiburcio zerriß; »denn es würde zu gehässig sein, zu denken, daß Verrat Euch zum Herrn des Geheimnisses eines anderen gemacht hat.«
»Des Geheimnisses eines anderen?« rief der junge Mann mit rauher Stimme, indem er vor Erstaunen zurückwich.
»Eines Geheimnisses, das nur Don Estévan gehört!« erwiderte Rosarita. »Ich habe es gekannt!«
»Aber von diesem Geheimnis«, rief Tiburcio, »soll ich nur allein wissen, hat man mir gesagt. Ach, Don Estévan besitzt es auch? … So wird Don Estévan mir auch sagen können, wer der Mörder meines Vater ist! Ich haßte ihn schon so sehr … O mein Gott«, rief er, mit dem Fuß stampfend, »laß ihn es selbst sein!«
»Bitte vielmehr Gott, daß er dich begnadige!« rief eine Stimme, deren Klang Rosarita einen Schreckensruf auspreßte, während eine dunkle Gestalt wie ein Pfeil den Raum durchflog, der Tiburcio von den beiden Lauschern trennte.
Ehe er sich in den Verteidigungszustand setzen konnte, erhielt Tiburcio einen heftigen Stoß, verlor das Gleichgewicht und fiel; sein Gegner warf sich auf ihn. Einige Minuten hindurch wälzten sich die beiden Gegner auf dem Sand, ohne daß einer von ihnen ein Wort ausgestoßen hätte. Man hörte nur das dumpfe Geräusch schwerer Atemzüge. Das der Hand Cuchillos entschlüpfte Messer blitzte am Boden mit unheilbringendem Glanz, ohne daß einer sich dessen hätte bemächtigen können.
»Cuchillo, wir sind quitt!« rief Tiburcio, der sich mit einer äußersten Anstrengung erhob und seine Knie auf die Brust des Banditen setzte, während er seinen Dolch aus dem Gürtel zu ziehen suchte.
Eine Bewegung der Unentschiedenheit – obgleich schnell wie der Gedanke – ließ Don Estévan zögern, ob er für oder gegen Tiburcio Partei ergreifen solle.
»Halt!« rief Rosarita, indem sie ein herzzerreißendes Geschrei ausstieß. »Halt! Bei der Liebe der Heiligen Jungfrau und aller Heiligen, dieser junge Mann ist der Gast meines Vaters; sein Leben ist geheiligt unter unserem Dach!«
Don Estévan hielt den Arm fest, der Cuchillo treffen sollte, und während Tiburcio sich umwandte, um zu sehen, wer sich zwischen seine Rache und ihn stellte, erhob sich Cuchillo wieder. Seinerseits sprang Tiburcio rückwärts, wickelte seinen Mantel um den Arm, erhob ihn wie einen Schild, und mit vorgebeugtem Körper, ausgestrecktem Fuß, den Arm in gleicher Höhe mit dem Auge, schien er in der Stellung des antiken Fechters sich einen Gegner zum Angriff auszuwählen.
»Du nennst das quitt sein?« rief Cuchillo, noch keuchend unter dem Druck des Knies, das so schwer auf ihm gelastet hatte. »Dein Leben gehört mir; ich habe es dir nur geliehen und werde es dir wieder nehmen!«
»Heran doch, du Hund!« schrie Tiburcio zu ihm, dessen Aufregung durch den Anblick seiner beiden Gegner noch eine Stufe höher gestiegen war. »Kommt auch Ihr heran, Don Estévan! Feiger Mörder! Ihr bezahlt für den Mord an verteidigungslosen Leuten.«
Eine tiefe Blässe verbreitete sich bei dieser blutigen Beschimpfung, bei dieser unerwarteten Anklage über das Gesicht des Spaniers; er zog seinerseits seinen Dolch. »Drauf, Cuchillo, drauf!« schrie er in wütendem Ton. Und er selbst warf sich auf den jungen Mann. Vielleicht wäre Tiburcio dem Angriff seiner beiden Feinde erlegen, wenn nicht plötzlich ein helleres Licht durch das Gitter am Fenster Rosaritas gefallen wäre und den Schauplatz mit rötlichem Schein erleuchtet hätte.
Wir haben gesehen, daß Tiburcio bei dem jungen Mädchen alles ohne Erfolg versucht hatte: Klagen, Vorwürfe, Versprechungen waren nutzlos gewesen. Aber diese unvorhergesehene Entwicklung mußte viel beredter zu seinen Gunsten sprechen. Es gibt romantische Zustände, von denen auch die Frau mit dem ruhigsten Urteil getäuscht wird und sich immer fangen läßt. Eine Fackel in der Hand, hatte sich Doña Rosarita auf den Schauplatz dieser so rasch aufeinander gefolgten Ereignisse gestürzt. Beim Anblick Tiburcios, der furchtlos seine verteidigende Stellung beibehielt, während das Blut von seinem mit dem Messer bewaffneten Arm auf die Erde tropfte, bebte ihr Herz voll Mitgefühl und Bewunderung. Ihr erster Antrieb war, sich in die Arme dieses unerschrockenen und schönen jungen Mannes zu werfen, dessen Leben bedroht war, dessen Blut floß. Aber sie gehörte zu den Frauen, die den Schrei des Herzens unter einer keuschen Zurückhaltung zu ersticken wissen; sollten sie auch darüber sterben! Tiburcio war der einzige, mit dem sie sich nicht zu beschäftigen schien.
»O mein Gott«, rief sie, »Don Estévan, seid Ihr verwundet? Señor Cuchillo, Señor Arechiza – um der Liebe der Heiligen Jungfrau willen, zieht euch zurück! Niemand möge erfahren, daß ein Verbrechen in unserem Haus begangen worden ist!«
Diese Vermittlung des jungen Mädchens, dessen Busen sich unter dem feinen Hemd hob und senkte; das mit aufgelösten Flechten und auf den Nacken zurückgeworfenem Schleier in seiner stolzen und wilden Schönheit ehrfurchtgebietend dastand, war allmächtig. Die Messer kehrten in ihre Scheiden zurück. Cuchillo murrte wie eine Dogge, der man einen Maulkorb angelegt hat, Don Estévan beharrte in düsterem Schweigen; beide entzogen sich dem Lichtkreis, kehrten in den Schatten zurück und verschwanden.
Nur Tiburcio blieb mit trotziger Stirn, funkelndem Auge und einem lebhaft durch den Glanz der Fackel erleuchteten Antlitz allein auf dem Kampfplatz zurück. Allmählich jedoch nahm diese stolze Haltung des Mannes, der sich größer fühlt mitten in der Gefahr, beim Anblick Rosaritas einen melancholischen Ausdruck an.
Auch Rosarita erbleichte unter der Rückwirkung ihrer Gemütsbewegungen und verhüllte züchtig und ganz verwirrt durch das neue Gefühl, das in ihr erwacht war, ihren entblößten Busen und ihre Schultern mit den Falten ihres Rebozos.
»Rosarita«, sagte Tiburcio sanft, »ich hätte vielleicht – so ausdauernd ist die Hoffnung! – an Euren Worten gezweifelt, aber Eure Handlungen haben deutlicher gesprochen. Gerade zu meinen Feinden seid Ihr zuerst geeilt, und doch floß mein Blut! Seht, es fließt immer noch!«
»Gott weiß, ob ich diesen Vorwurf verdient habe!« sagte das junge Mädchen mit einer Gebärde des Schreckens beim Anblick der Blutflecken im Sand; es näherte sich, um sich selbst von der Gefährlichkeit der Wunde zu überzeugen.
Tiburcio wich zurück. »Es ist zu spät!« sagte er mit einem das Herz zerreißenden Lächeln. »Das Unglück ist geschehen! Lebt wohl! Ich bin zu lange Euer Gast gewesen; die Gastlichkeit Eures Daches war unheilbringend für mich. Mein Leben ist hier bedroht, meine teuersten Hoffnungen sind hier vernichtet.«
Mit diesen Worten näherte er sich einer Öffnung in der Ringmauer. Hundert Schritt davon erhoben sich düster und schwarz die ersten Bäume des Waldes; das geheimnisvolle Licht, das Tiburcio schon im Laufe des Abends aufgefallen war, warf schwache Strahlen wie die eines Sterns durch die Zwischenräume der Baumstämme.
»Was wollt Ihr tun, Tiburcio?« sagte Rosarita, die Hände faltend, während infolge der verschiedenen Gefühle, die auf sie einstürmten, ihre Augen gegen ihren Willen von Tränen naß wurden. »Das Dach meines Vaters wird Euch schützen!«
Tiburcio schüttelte verneinend das Haupt.
Rosarita fuhr fort, indem sie die Hand gegen den Wald ausstreckte: »Aber dort, allein und ohne Verteidigung, erwartet Euch der Tod!« Dann gab sie ihrer Stimme jene überzeugende Sanftheit, die den Entschluß eines Mannes in Unschlüssigkeit verwandelt. »An welchem Ort würdet Ihr Euch auch besser befinden als in meiner Nähe?« sagte sie traurig.
Die Energie Tiburcios wankte bei diesem Klang der geliebten Stimme. Er stand still. »Wohlan! Rosarita, sagt ein Wort; sagt, daß Ihr meinen Gegner haßt, wie ich ihn hasse, und ich bleibe!«
Ein heftiger Kampf schien in der Seele Rosaritas vor sich zu gehen; ihr Busen wogte rasch auf und nieder, sie umhüllte Tiburcio mit einem langen, zärtlichen, vorwurfsvollen Blick – aber sie blieb stumm.
»So lebt denn wohl!« rief Tiburcio. »Ich habe aufgehört, Euer Gast zu sein.« Und er sprang