Neue Gedichte. Rainer Maria Rilke

Neue Gedichte - Rainer Maria Rilke


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      Rainer Maria Rilke

      NEUE GEDICHTE

      Früher Apollo

      Wie manches Mal durch das noch unbelaubte

      Gezweig ein Morgen durchsieht, der schon ganz

      im Frühling ist: so ist in seinem Haupte

      nichts was verhindern könnte, daß der Glanz

      aller Gedichte uns fast tödlich träfe;

      denn noch kein Schatten ist in seinem Schaun,

      zu kühl für Lorbeer sind noch seine Schläfe

      und später erst wird aus den Augenbraun

      hochstämmig sich der Rosengarten heben,

      aus welchem Blätter, einzeln, ausgelöst

      hintreiben werden auf des Mundes Beben,

      der jetzt noch still ist, niegebraucht und blinkend

      und nur mit seinem Lächeln etwas trinkend

      als würde ihm sein Singen eingeflößt.

      Mädchen-Klage

      Diese Neigung, in den Jahren,

      da wir alle Kinder waren,

      viel allein zu sein, war mild;

      andern ging die Zeit im Streite,

      und man hatte seine Seite,

      seine Nähe, seine Weite,

      einen Weg, ein Tier, ein Bild.

      Und ich dachte noch, das Leben

      hörte niemals auf zu geben,

      daß man sich in sich besinnt.

      Bin ich in mir nicht im Größten?

      Will mich Meines nicht mehr trösten

      und verstehen wie als Kind?

      Plötzlich bin ich wie verstoßen,

      und zu einem Übergroßen

      wird mir diese Einsamkeit,

      wenn, auf meiner Brüste Hügeln

      stehend, mein Gefühl nach Flügeln

      oder einem Ende schreit.

      Liebes-Lied

      Wie soll ich meine Seele halten, daß

      sie nicht an deine rührt? Wie soll ich sie

      hinheben über dich zu andern Dingen?

      Ach gerne möcht ich sie bei irgendwas

      Verlorenem im Dunkel unterbringen

      an einer fremden stillen Stelle, die

      nicht weiterschwingt, wenn deine Tiefen schwingen.

      Doch alles, was uns anrührt, dich und mich,

      nimmt uns zusammen wie ein Bogenstrich,

      der aus zwei Saiten eine Stimme zieht.

      Auf welches Instrument sind wir gespannt?

      Und welcher Geiger hat uns in der Hand?

      O süßes Lied.

      Eranna an Sappho

      O du wilde weite Werferin:

      Wie ein Speer bei andern Dingen

      lag ich bei den Meinen. Dein Erklingen

      warf mich weit. Ich weiß nicht wo ich bin.

      Mich kann keiner wiederbringen.

      Meine Schwestern denken mich und weben,

      und das Haus ist voll vertrauter Schritte.

      Ich allein bin fern und fortgegeben,

      und ich zittere wie eine Bitte;

      denn die schöne Göttin in der Mitte

      ihrer Mythen glüht und lebt mein Leben.

      Sappho an Eranna

      Unruh will ich über dich bringen,

      schwingen will ich dich, umrankter Stab.

      Wie das Sterben will ich dich durchdringen

      und dich weitergeben wie das Grab

      an das Alles: allen diesen Dingen.

      Sappho an Alkaïos

Fragment

      Und was hättest du mir denn zu sagen,

      und was gehst du meine Seele an,

      wenn sich deine Augen niederschlagen

      vor dem nahen Nichtgesagten? Mann,

      sieh, uns hat das Sagen dieser Dinge

      hingerissen und bis in den Ruhm.

      Wenn ich denke: unter euch verginge

      dürftig unser süßes Mädchentum,

      welches wir, ich Wissende und jene

      mit mir Wissenden, vom Gott bewacht,

      trugen unberührt, daß Mytilene

      wie ein Apfelgarten in der Nacht

      duftete vom Wachsen unsrer Brüste —.

      Ja, auch dieser Brüste, die du nicht

      wähltest wie zu Fruchtgewinden, Freier

      mit dem weggesenkten Angesicht.

      Geh und laß mich, daß zu meiner Leier

      komme, was du abhältst: alles steht.

      Dieser Gott ist nicht der Beistand Zweier,

      aber wenn er durch den Einen geht

      — — — — — — —

      Grabmal eines jungen Mädchens

      Wir gedenkens noch. Das ist, als müßte

      alles dieses einmal wieder sein.

      Wie ein Baum an der Limonenküste

      trugst du deine kleinen leichten Brüste

      in das Rauschen seines Bluts hinein:

      — jenes Gottes.

      Und es war der schlanke

      Flüchtling, der Verwöhnende der Fraun.

      Süß und glühend, warm wie dein Gedanke,

      überschattend deine frühe Flanke

      und geneigt wie deine Augenbraun.

      Opfer

      O wie blüht mein Leib aus jeder Ader

      duftender, seitdem ich dich erkenn;

      sieh, ich gehe schlanker und gerader,

      und du wartest nur —: wer bist du denn?

      Sieh: ich fühle, wie ich mich entferne,


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