Wilhelm Meisters Wanderjahre — Band 3. Johann Wolfgang von Goethe
Alten dagegen hielten gar mancherlei Fragen bereit; vom Krieg wollte jedermann wissen, der glücklicherweise sehr entfernt geführt wurde und auch näher solchen Gegenden kaum gefährlich gewesen wäre. Sie freuten sich jedoch des Friedens, obgleich in Sorge wegen einer andern drohenden Gefahr; denn es war nicht zu leugnen, das Maschinenwesen vermehre sich immer im Lande und bedrohe die arbeitsamen Hände nach und nach mit Untätigkeit. Doch ließen sich allerlei Trost — und Hoffnungsgründe beibringen.
Unser Mann wurde dazwischen wegen manches Lebensfalles um Rat gefragt, ja sogar mußte er sich nicht allein als Hausfreund, sondern auch als Hausarzt zeigen; Wundertropfen, Salze, Balsame führte er jederzeit bei sich.
In die verschiedenen Häuser eintretend fand ich Gelegenheit, meiner alten Liebhaberei nachzuhängen und mich von der Spinnertechnik zu unterrichten. Ich ward aufmerksam auf Kinder, welche sich sorgfältig und emsig beschäftigten, die Flocken der Baumwolle auseinanderzuzupfen und die Samenkörner, Splitter von den Schalen der Nüsse nebst andern Unreinigkeiten wegzunehmen; sie nennen es erlesen. Ich fragte, ob das nur das Geschäft der Kinder sei, erfuhr aber, daß es in Winterabenden auch von Männern und Brüdern unternommen werde.
Rüstige Spinnerinnen zogen sodann, wie billig, meine Aufmerksamkeit auf sich; die Vorbereitung geschieht folgendermaßen: Es wird die erlesene oder gereinigte Baumwolle auf die Karden, welche in Deutschland Krempel heißen, gleich ausgeteilt, gekardet, wodurch der Staub davongeht und die Haare der Baumwolle einerlei Richtung erhalten, dann abgenommen, zu Locken festgewickelt und so zum Spinnen am Rad zubereitet.
Man zeigte mir dabei den Unterschied zwischen links und rechts gedrehtem Garn; jenes ist gewöhnlich feiner und wird dadurch bewirkt, daß man die Saite, welche die Spindel dreht, um den Wirtel verschränkt, wie die Zeichnung nebenbei deutlich macht (die wir leider wie die übrigen nicht mitgeben können).
Die Spinnende sitzt vor dem Rade, nicht zu hoch; mehrere hielten dasselbe mit übereinandergelegten Füßen in festem Stande, andere nur mit dem rechten Fuß, den linken zurücksetzend. Mit der rechten Hand dreht sie die Scheibe und langt aus, so weit und so hoch sie nur reichen kann, wodurch schöne Bewegungen entstehen und eine schlanke Gestalt sich durch zierliche Wendung des Körpers und runde Fülle der Arme gar vorteilhaft auszeichnet; die Richtung besonders der letzten Spinnweise gewährt einen sehr malerischen Kontrast, so daß unsere schönsten Damen an wahrem Reiz und Anmut zu verlieren nicht fürchten dürften, wenn sie einmal anstatt der Gitarre das Spinnrad handhaben wollten.
In einer solchen Umgebung drängten sich neue, eigene Gefühle mir auf, die schnurrenden Räder haben eine gewisse Beredsamkeit, die Mädchen singen Psalmen, auch, obwohl seltener, andere Lieder.
Zeisige und Stieglitze, in Käfigen aufgehangen, zwitschern dazwischen, und nicht leicht möchte ein Bild regeren Lebens gefunden werden als in einer Stube, wo mehrere Spinnerinnen arbeiten.
Dem beschriebenen Rädligarn ist jedoch das Briefgarn vorzuziehen; hiezu wird die beste Baumwolle genommen, welche längere Haare hat als die andere. Ist sie rein gelesen, so bringt man sie, anstatt zu krempeln, auf Kämme, welche aus einfachen Reihen langer, stählerner Nadeln bestehen, und kämmt sie; alsdann wird das längere und feinere Teil derselben mit einem stumpfen Messer bänderweise (das Kunstwort heißt ein Schnitz) abgenommen, zusammengewickelt und in eine Papierdüte getan und diese nachher an der Kunkel befestigt. Aus einer solchen Düte nun wird mit der Spindel von der Hand gesponnen, daher heißt es aus dem Brief spinnen und das gewonnene Garn Briefgarn.
Dieses Geschäft, welches nur von ruhigen, bedächtigen Personen getrieben wird, gibt der Spinnerin ein sanfteres Ansehen als das am Rade; kleidet dies letzte eine große, schlanke Figur zum besten, so wird durch jenes eine ruhige, zarte Gestalt gar sehr begünstigt. Dergleichen verschiedene Charaktere, verschiedenen Arbeiten zugetan, erblickte ich mehrere in einer Stube und wußte zuletzt nicht recht, ob ich meine Aufmerksamkeit der Arbeit oder den Arbeiterinnen zu widmen hätte.
Leugnen aber dürft' ich nicht sodann, daß die Bergbewohnerinnen, durch die seltenen Gäste aufgeregt, sich freundlich und gefällig erwiesen. Besonders freuten sie sich, daß ich mich nach allem so genau erkundigte, was sie mir vorsprachen, bemerkte, ihre Gerätschaften und einfaches Maschinenwerk zeichnete, ja selbst ihre Arme, Hände und hübschen Glieder mit Zierlichkeit flüchtig abschilderte, wie hier neben zu sehen sein sollte. Auch ward, als der Abend hereintrat, die vollbrachte Arbeit vorgewiesen, die vollen Spindeln in dazu bestimmten Kästchen beiseitegelegt und das ganze Tagewerk sorgfältig aufgehoben. Nun war man schon bekannter geworden, die Arbeit jedoch ging ihren Gang; nun beschäftigte man sich mit dem Haspeln und zeigte schon viel freier teils die Maschine, teils die Behandlung vor, und ich schrieb sorgfältig auf.
Der Haspel hat Rad und Zeiger, so daß sich bei jedesmaligem Umdrehen eine Feder hebt, welche niederschlägt, sooft hundert Umgänge auf den Haspel gekommen sind. Man nennt nun die Zahl von tausend Umgängen einen Schneller, nach deren Gewicht die verschiedene Feine des Garns gerechnet wird.
Rechts gedreht Garn gehen 25 bis 30 auf ein Pfund, links gedreht 60 bis 80, vielleicht auch 90. Der Umgang des Haspels wird ungefähr sieben Viertel Ellen oder etwas mehr betragen, und die schlanke, fleißige Spinnerin behauptete, 4, auch 5 Schneller, das wären 5 000 Umgänge, also 8 bis 9000 Ellen Garn, täglich am Rad zu spinnen; sie erbot sich zur Wette, wenn wir noch einen Tag bleiben wollten.
Darauf konnte denn doch die stille und bescheidene Briefspinnerin es nicht ganz lassen und versicherte: daß sie aus dem Pfund 120 Schneller spinne in verhältnismäßiger Zeit. (Briefgarnspinnen geht nämlich langsamer als das Spinnen am Rade, wird auch besser bezahlt. Vielleicht spinnt man am Rade wohl das Doppelte.) Sie hatte eben die Zahl der Umgänge auf dem Haspel voll und zeigte mir, wie nun das Ende des Fadens ein paarmal umgeschlagen und geknüpft werde; sie nahm den Schneller ab, drehte ihn so, daß er in sich zusammenlief, zog das eine Ende durch und konnte das Geschäft der geübten Spinnerin als vollbracht mit unschuldiger Selbstgefälligkeit vorzeigen.
Da nun hier weiter nichts zu bemerken war, stand die Mutter auf und sagte: da der junge Herr doch alles zu sehen wünsche, so wolle sie ihm nun auch die Trockenweberei zeigen. Sie erklärte mir mit gleicher Gutmütigkeit, indem sie sich an den Webstuhl setzte, wie sie nur diese Art handhabten, weil sie eigentlich allein für grobe Kattune gelte, wo der Einschlag trocken eingetragen und nicht sehr dicht geschlagen wird; sie zeigte mir denn auch solche trockene Ware; diese ist immer glatt, ohne Streifen und Quadrate oder sonst irgendein Abzeichen, und nur fünf bis fünfeinhalbes Viertel Elle breit.
Der Mond leuchtete hell vom Himmel, und unser Garnträger bestand auf einer weitern Wallfahrt, weil er Tag und Stunde halten und überall richtig eintreffen müsse; die Fußpfade seien gut und klar, besonders bei solcher Nachtfackel. Wir von unserer Seite erheiterten den Abschied durch seidene Bänder und Halstücher, dergleichen Ware St. Christoph ein ziemliches Paket mit sich trug; das Geschenk wurde der Mutter gegeben, um es an die Ihrigen zu verteilen.
Dienstags, den 16. Früh.
Die Wanderung durch eine herrliche klare Nacht war voll Anmut und Erfreulichkeit; wir gelangten zu einer etwas größern Hüttenversammlung, die man vielleicht hätte ein Dorf nennen dürfen; in einiger Entfernung davon auf einem freien Hügel stand eine Kapelle, und es fing schon an, wohnlicher und menschlicher auszusehen. Wir kamen an Umzäunungen vorbei, die zwar auf keine Gärten, aber doch auf spärlichen, sorgfältig gehüteten Wieswachs hindeuteten. Wir waren an einen Ort gelangt, wo neben dem Spinnen das Weben ernstlicher getrieben wird.
Unsere gestrige Tagereise, bis in die Nacht hinein verlängert, hatte die rüstigen und jugendlichen Kräfte aufgezehrt; der Garnbote bestieg den Heuboden, und ich war eben im Begriff, ihm zu folgen, als St. Christoph mir sein Reff befahl und zur Türe hinausging. Ich kannte seine löbliche Absicht und ließ ihn gewähren.
Des andern Morgens jedoch war das erste, daß die Familie zusammenlief und den Kindern streng verboten ward, nicht aus der Türe zu gehen, indem ein greulicher Bär oder sonst ein Ungetüm in der Nähe sich aufhalten müsse, denn es habe die Nacht über von der Kapelle her dergestalt gestöhnt und gebrummt, daß Felsen und Häuser hier hüben hätten erzittern mögen, und man riet, bei unserer heutigen längeren Wanderung wohl auf der Hut zu sein.