«1906». Der Zusammenbruch der alten Welt. Grautoff Ferdinand Heinrich

«1906». Der Zusammenbruch der alten Welt - Grautoff Ferdinand Heinrich


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im Hafen nicht weniger als 30 große Passagierdampfer gesehen haben. Es war dem Dampfer, ohne Hull anzulaufen, gelungen, beim Anbruch der Nacht heimlich davonzukommen. So verging der 20. März.

      Die Reede von Cuxhaven und die Elbmündung war völlig verlassen, nur nahe am Ufer waren noch einige Fischerboote von Finkenwärder und Blankenese verankert, die sich nicht getraut hatten, gewarnt von der Hafenbehörde, draußen ihrem Fang nachzugehen. In dem kleinen Hafen lagen zwei Dampfer der Nordseelinie, die ihre regelmäßigen Fahrten nach Helgoland usw. bereits eingestellt hatten. Draußen auf der Reede sah man den Lotsendampfer „Kapitän Karpfanger“ langsam in die Elbmündung zurückdampfen. Er hatte im Schlepp die drei Feuerschiffe, die auf Anordnung der Marinebehörde eingezogen wurden. Zwei andere Dampfer, darunter ein weißgestrichenes Marineboot, sah man draußen die Seezeichen einsammeln. Mitten im Fahrwasser lag der „Pelikan“ von der Kaiserlichen Marine, von Booten umschwärmt, und weiter stromabwärts sah man mehrere Minenleger, die der Hamburger so drastisch Eierleger nennt, das Fahrwasser bereits mit einer Minensperre versehen. Zu demselben Zwecke wurden einige Fischdampfer und Torpedoboote verwendet. In den Batterien von Kugelbaake und Grimmerhörn herrschte reges Leben, und von den Kasernen tönten Signale herüber. Die Küstenbahn hatte ihren Betrieb eingeschränkt und war ausschließlich für Militärtransporte zur Verfügung gestellt worden.

      Was landeinwärts von Cuxhaven vorging, davon wurden unberufene Augen durch eine doppelte Postenlinie ferngehalten; das eine war klar, daß dort hinten etwas vorging, aber die vielen morgens nach Cuxhaven gefahrenen Hamburger waren infolge der strengen Absperrung nicht in der Lage, ihre Neugierde zu befriedigen. Sie hielten sich dafür schadlos, indem sie vor den beiden Batterien, deren gewaltige Rohre zwischen den Erdtraversen hervorschauten, auf der Strandpromenade auf und ab patrouillierten, die Möglichkeiten eines feindlichen Angriffes erwägend. Mittags liefen zwei Torpedodivisionen aus Cuxhaven aus. Von der Flotte sah man sonst weiter nichts, es hieß nur, in Brunsbüttel werde die Durchfahrt mehrerer Schiffe erwartet. Der Kanal war seit morgens um 6 Uhr für jedes Handelsschiff gesperrt. So verging der 20. März, ohne daß man über den Fortgang der Ereignisse etwas Positives erfuhr, unter größter Spannung. Der Transport von Marinekommandos und ihre Verteilung auf die einzelnen Befestigungen an der Elbmündung entzog sich der Beobachtung, da über alle diese Transporte nichts in der Presse mitgeteilt wurde, der Dienst auf der Küstenbahn sich unter einer strengen Aufsicht vollzog und von lokalen Ereignissen nur die Zuschauer an Ort und Stelle erfuhren.

      Im Dom

      Der 21. März war durch kaiserliche Verordnung zum allgemeinen Buß- und Bettag bestimmt. Noch einmal wollte man den Schutz des Höchsten auf die deutschen Waffen herabflehen, noch einmal wollte man eine Stunde ruhiger Sammlung haben, bevor der Sturm losbrauste. Der Gottesdienst im Berliner Dom war auf 10 Uhr vormittags angesetzt. Der Kaiser hatte seine Residenz um 8 Uhr morgens verlassen und war mit der Kaiserin und dem Kronprinzen hinausgefahren nach Charlottenburg und Potsdam, um in den beiden stillen Kapellen, die die Gräber der beiden ersten Hohenzollernkaiser bergen, einen stillen Abschied zu nehmen. Niemand war Zeuge gewesen dieser Stunden, da des Reiches Herrscher mit den Seinen an jenen, durch große Erinnerungen geweihten, Stätten weilte.

      Reges Leben herrschte in der Reichshauptstadt, als die kaiserliche Equipage sich dem Brandenburger Tore wieder näherte. Ohne allen militärischen Pomp durchfuhr der Kaiser die Linden, überall von der Menge mit donnernden Zurufen begrüßt. Zahllose Blumen flogen in den kaiserlichen Wagen, man hatte das Bedürfnis, dem Monarchen seine Liebe und Anhänglichkeit durch diese letzten Spenden zu bezeichnen, denn am Tage darauf wollte der Kaiser zur Armee abreisen. Am Morgen hatte ein Berliner Blatt berichtet, ein Großindustrieller habe ein Gesuch an den Kaiser gerichtet, er wolle eine Million für die verwundeten Krieger zur Verfügung stellen, wenn sein einziger Sohn von der Dienstpflicht befreit werde. Der Kaiser habe am Rande der Bittschrift bemerkt: Ablehnen, mein Sohn muß auch mit.

      Der gewaltige Prachtbau des Berliner Domes war bis auf den letzten Platz gefüllt. Fast nur Uniformen; hier war noch einmal die Führerschaft der Armee, soweit sie nicht schon an der Grenze stand, um ihren Kaiser versammelt. Als die kaiserliche Familie ihre Loge betrat, ging ein Gemurmel durch die Versammlung. Ein metallisches Klirren und Knirschen des kriegerischen Schmuckes, aller Augen wandten sich einen Moment dem Herrscher zu und eine rauschende Bewegung ging durch die Menge.

      Die Worte des Predigers waren in dem weiten Gotteshaus verhallt; und während alle, die hier die Kniee gebeugt hatten vor dem Gott, der die Geschicke der Völker in seiner Hand hält, noch ihren Gedanken nachhingen und von der Vergangenheit Abschied nahmen, begann leise die Orgel mit ganz leisen, kaum hörbaren perlenden Akkorden, bald anschwellend zu brausenden Tönen, bald fast verklingend in den Wölbungen der Decke und in den Kapellen und Nischen ein leises Echo weckend. Dann setzte die Orgel wieder machtvoll ein und der Sturmgesang, der einst ein armes Volk begeistert und geführt hatte zum Kampfe gegen den übermächtigen Feind, er brach hervor mit ergreifender Gewalt, und jetzt begann der Domchor, und er klang hinaus wie Donnerhall dieser Schlachtensang, dieser eifernde Schrei um Hilfe: „Wir treten zum Beten vor Gott den Gerechten“ und hinaus sangen sie es alle und fromme Begeisterung, die dem Höchsten bekennt, daß ohne ihn kein Sieg, erklang hinaus, daß die gewaltigen Mauern dieser Trutzkirche des protestantischen Glaubens erdröhnten.

      Leise öffneten sich die Türen, die ersten Bänke leerten sich bereits, in den breiten Eingangspforten drängten sich glitzernde Uniformen, da mischte sich in die Töne des verhallenden Chorals von draußen her ein scharfer, heller Klang. Der Gottesfrieden ward durch einen rauhen Ton zerrissen, die Gotteswelt versank, ein Rasseln wie von klirrendem Metall. Als die Ersten hinaustraten in den sonnigen, strahlenden Frühlingstag, hielten ihnen tausend Hände etwas entgegen, was, rasch entziffert, die Meldung trug: „Die Engländer bombardieren Cuxhaven“. Donnernde Zurufe empfingen den Kaiser, als er das Gotteshaus verließ und rasch zu Fuß, die Kaiserin am Arm, die Straße überschritt und im Portal des kaiserlichen Schlosses verschwand.

      Der erste Blitz war herniedergefahren, zündend, vernichtend, verwüstend und zertrümmernd, wann folgte der zweite und wohin traf er?

      Ran an den Feind!

      Um 4 Uhr nachmittags am 20. März lief auf der Funkspruchsstation Helgoland ein Zifferntelegramm aus Cuxhaven ein, das den kommandierenden Admiral des auf der Reede liegenden Geschwaders über die politische Lage informierte und ihm neue Befehle übermittelte. Der Admiral begab sich von Bord seines Flaggschiffes „Kaiser Wilhelm II.“ sofort an Land und hatte eine längere Unterredung mit dem Kommandanten von Helgoland. ½ Stunde später legten sich die zehn Hamburger Kohlendampfer, die sich beim Geschwader befanden, in einige Entfernung längsseits der Linienschiffe, und an den durch Stahltrossen konstruierten Schwebebahnen krochen bald die schwarzen Kohlengefäße hinüber zu den nur leise auf und nieder stampfenden Panzern, wo sie prasselnd in die schwarzen Schlünde der Bunker entleert wurden, während die Torpedoboote unten an der kleinen Mole anlegten und dort ihre Kohlenvorräte auffüllten. Gegen 6 Uhr wurden die Trossen wieder eingeholt und die Kohlenschiffe nahmen ihren Weg nach der Richtung von Cuxhaven, bald im abendlichen Dämmerlicht nur noch als eine braune Rauchwolke am Horizont erkennbar.

      In der ruhigen See wiegten sich die grauen Leiber der fünf Panzer der „Wittelsbach“ – Klasse neben ihnen der „Kaiser Wilhelm II.“ und etwas seewärts die Kreuzer „Friedrich Karl“ und „Prinz Adalbert“ mit ihren drei schlanken Schloten. Weiter draußen, einen Halbkreis nach Westen bildend, lagen die vier Kreuzer „Gazelle“, „Medusa“, „Niobe“ und „Nymphe“. Die scheidende Sonne überstrahlte den abendlichen Himmel mit gelben und glutroten Farben, die sich auf der leise wogenden Meeresflut in schimmernden Reflexen widerspiegelten. Fortwährend wurden zwischen dem Lande und dem Admiralsschiff, sowie zwischen diesem und den einzelnen Schiffen des Geschwaders, Signale gewechselt. Als im Abenddämmern die Winkflaggen nicht mehr zu erkennen waren, blitzten oben zwischen den Signalmasten die farbigen, elektrischen Lichter als feuerige Funken auf, einen steten Kontakt zwischen dem Kommandanten und seinen Unterführern unterhaltend. Die Schiffe des Geschwaders waren die einzigen Punkte, die das eintönige Graugrün der Meeresfläche unterbrachen. Nur ganz fern im Norden steuerte ein schwarzer, niedriger Frachtdampfer, an den hellen Flächen auf seinen Vorder- und Hinterdeck als Holzdampfer erkennbar, nach Südwest, offenbar ein Schiff, das von dem drohenden Unwetter noch keine Nachricht erhalten


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