Melusine: Ein Liebesroman. Jakob Wassermann

Melusine: Ein Liebesroman - Jakob Wassermann


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      Melusine: Ein Liebesroman

      I

      Wenige Menschen verstehen es, ihre Wünsche im Bereich des Möglichen zu lassen. –

      Nach monatelangem Hungern war es Vidl Falk endlich gelungen, ein Stipendium von der Hochschule zu erhalten. Mehr hatte er nicht gewünscht. Er betrachtete sich als gemachten Mann und strebte, sich das Leben etwas gemächlicher einzurichten. Mit der ganzen Besitzesfreude eines Kapitalisten trug er sein Vermögen spazieren. Jedoch vermied er das Gedränge der Verkehrsstraßen, denn er fürchtete sich vor Taschendieben. Wenn er beim Mittagessen die Zeitung zur Hand nahm, so studierte er zuerst unter der Rubrik „Lokalnachrichten“ die Aufzählung der Diebstähle und der verlorenen Geldbörsen.

      Der plötzlich eingetretene Reichtum berauschte ihn. Die schmale, armselige Zelle, in der er bis jetzt gehaust, ekelte ihn auf einmal an. Er kündigte und ging aus, ein Zimmer zu suchen, das mit seinen Träumen möglichst übereinstimmen sollte. Der erfinderische Sinn münchner Vermieterinnen, der schon den Aushängezettel mit jenen feinen Nüancen versieht, welche auf den Preis schließen lassen, erleichterte ihm das Suchen.

      Eines Nachmittags erkletterte er die zwei steilen Treppen eines ziemlich vornehmen Hauses in der Heßstraße. „Pension Bender“ stand an der Korridorthüre.

      Ein kleines, zierliches Fräulein führte ihn in das ausgeschriebene Zimmer. Leutselig und mit weltmännischem Behagen betrachtete Falk die vier Wände des Zimmerchens und beklagte, daß keine Ottomane oder „so was Ähnliches“ vorhanden sei. Derselbe herablassende junge Mann hatte sich vor noch nicht vier Tagen mit einem Mittagessen begnügt, das aus einem für zehn Pfennige Äpfel bereiteten Mus und mit einem Abendessen, welches aus purem Schwarzbrot bestand.

      Mit ironischem Lächeln beobachtete ihn das junge Mädchen. Es schien seine Spottlust mit Mühe zu zügeln.

      „Warum lachen Sie denn?“ fragte Falk indem er ein möglichst gutmütiges Gesicht machte, fügte aber sogleich hastig hinzu, daß er das Zimmer mieten würde. „Wer wohnt denn sonst noch bei Ihnen?“ fragte er, mit der Nase in der Luft schnuppernd, denn es roch nach Weihrauch.

      Das Mädchen ließ ein helles, hölzernes Lachen hören und erwiderte: „Nebenan wohnt Doktor Brosam – er ist Arzt und er mag den Weihrauch sehr gern –“

      „Pfui!“

      „Dann ein Fräulein von Erdmann, eine Gelehrte, und Fräulein Mirbeth. Das ist alles.“

      „Eine Gelehrte –? Jung?“

      Jetzt lachten sie Beide. –

      Gegen Abend des nächsten Tages – es war der 1. November – bezog Falk seine neue Wohnung. Als er mit Auspacken und Ordnen seiner Habseligkeiten fertig war, ging er in die Küche, um die Magd nach etwas zu fragen. Die Küchenthüre stand halboffen und er wollte sie schon aufstoßen, als ihn der Anblick einer weiblichen Gestalt, welche drinnen ganz nahe an der Thür stand, daran hinderte. Diese Gestalt war groß und schlank, fast hager. Das ihm zugewandte Profil zeigte herbe und unschöne Linien, ja, es erschien ihm fast abstoßend. Soviel er im Dunkeln urteilen konnte, war sie noch sehr jung; er hörte eine schleppende und etwas gewöhnliche Stimme, die mit dem Tonfall einer Ermüdeten der Magd Erklärungen irgend welcher Art gab.

      Vidl Falk wandte sich rasch ab, um nicht gesehen zu werden; aber in diesem Augenblick kam das Fräulein Bender aus dem Wohnzimmer und fragte nach seinem Begehr. Während er noch mit ihr sprach, verließ das schlanke, junge Mädchen die Küche und ging an ihnen vorbei. Falk sah ihr nicht ins Gesicht, obwohl er ihre Züge jetzt genau hätte sehen können, da die Magd mit der Korridorlampe folgte. Nur flüchtig musterte er ihren Schlafrock von düsterroter Färbung mit den Aufschlägen an der Brust und dem Brokatverputz. Doch obwohl er der Vorbeigehenden durchaus keine Beachtung schenkte, hörte er doch auch nicht darauf, was das kleine, spöttische Fräulein Bender sagte. Eine Unruhe, die freilich nur einige Sekunden dauerte, hatte ihn daran verhindert.

      „Wer war denn das?“ fragte er nachher ganz gleichgültig die Kleine.

      Das Mädchen streifte ihn mit einem kurzen Seitenblick und sagte mit komischer, fast komödiantischer Wichtigkeit: „Das war Fräulein Mirbeth.“

      Falk glaubte etwas Gehässiges aus dem Ton dieser Antwort zu hören, nicht gegen ihn, sondern gegen jene Dame. Nach Monaten noch erinnerte er sich der ironischen Betonung des Namens und des überlegen gespitzten Mundes mit der hervortretenden Unterlippe.

      Noch in derselben Nacht schrieb Vidl Falk die folgenden, etwas jugendlich klingenden Sätze in sein Tagebuch: „Ich bin ruhig und glücklich jetzt, – beglückt von der Einsamkeit und allerlei unnützen Gedanken. Und doch fühle ich etwas Leeres in mir, eine Lücke, ein Loch. Sollte dies das Weib sein? Ich glaube kaum. Man kann sich doch nicht nach dem Giftbecher sehnen.“

      Auf der ersten Seite dieses Tagebuchs befanden sich in lapidaren Lettern die prunkvollen Worte: Die reine Wahrheit.

      II

      Fräulein Emilie von Erdmann erwachte seufzend aus dem Morgenschlummer. Das Auf- und Zuklappen der Thüren hatte ihren Schlaf verscheucht. Die dicke, ältliche Dame stöhnte sehr laut und hielt sich mit beiden Händen den Kopf. Als der Lärm kein Ende nahm, murmelte sie Flüche und Schimpfworte, ballte beide Fäuste gegen die unsichtbaren Feinde draußen und rief endlich verzweifelt aus: „Mein Leben ist verpfuscht!“ Dann sank sie theatralisch in die Kissen zurück und holte ein Brustbonbon aus dem Schubfach eines kleinen Tisches neben dem Bett.

      Sie empfand jenes heftige Unbehagen, das Jeden heimsucht, der aus dem Schlaf zu den Sorgen des Lebens zurückkehrt. Auch die Überlegung, wieder um einen Tag älter geworden zu sein, verstimmte sie. Der Verfall ihres Körpers war das Schauspiel, worüber sie täglich von neuem grollen mußte. Und sie wollte noch jung sein und zur Jugend gezählt werden. Aber mit fünfzig Jahren ist man alt, der kunstreichsten Modistin zum Trotz.

      Das Dienstmädchen brachte den Morgenkaffee und Fräulein von Erdmann beschwerte sich lebhaft über die Unruhe. „Liebste Anna,“ sagte sie mit vibrirender Stimme, „ich bin so elend, so krank. Sehen Sie her“ (sie streckte ihre Gichtfinger aus den Kissen) „wissen Sie was das ist? Das ist der Hohn des Lebens! Geben Sie mir die Hand, Anna! Ich weiß, daß Sie es gut mit mir meinen. Ich war nicht immer so. Ich habe Tage des Glanzes gesehn.“

      Das Mädchen lächelte kalt. Mit kecker Vertraulichkeit betrachtete es nach Dienstbotenart die gelbe, schwammige Hand. Wieder allein, nahm die Kranke eilig den kleinen Spiegel von der Wand und blickte starr hinein. Sie zuckte mit keiner Wimper, ihr Gesicht nahm einen königlich strengen und dann einen finstern, zürnenden Ausdruck an, und ihre abnorm langen, fleischigen Ohrlappen röteten sich.

      Von neuem wurden draußen die Thüren zugeschlagen, polternde Schritte ertönten auf dem Korridor, und der neue Herr rief nach Wasser. Mit einem Wutschrei sprang das Fräulein aus dem Bette. Sie suchte nach ihren Strümpfen, und kramte zu diesem Zweck unter den am Boden liegenden Wäschestücken, Zigarrenschachteln, Büchern, Zeitungen, Briefen und Unterröcken; sogar auf dem Tisch suchte sie zwischen den Kaffeetassen, Flaschen und Speiseresten. Aber das Erfolglose ihrer Bemühungen erkennend, begnügte sie sich damit, einen langen, faltenlosen Mantel um die Schultern zu hängen, der das schmutzige Nachthemd nur schlecht verhüllte, und barfuß in ein paar zerrissene Pantoffeln von ehrwürdigem Alter zu schlüpfen. Sie wollte schon hinausgehen, aber zwei Gründe hielten sie von ihrem Beschwerdegang ab. Erstens, dachte sie, wird mein Kaffee kalt und zweitens wäre diese kleine Frau Bender fähig, mich wegen der lumpigen paar hundert Mark, die ich schuldig bin, zu enuyiren. Dies „enuyiren“ gefiel ihr; es verhüllte das am Besten, was zu denken sie sich schämte.

      Nach dem reichlichen Frühstück hatte sie ihre Morgenzigarre angezündet und sich in schöner Pose auf die Ottomane gelegt. Da knarrte die Thür in den Angeln und unwillig wandte die Liegende das Haupt. Sie sah Fräulein Mirbeth im Zimmer stehen, dicht neben der Thür, die das junge Mädchen langsam geschlossen hatte. Emilie von Erdmann sprang auf, „Was – Sie, Fräulein!“ rief sie erstaunt.

      Fräulein Mirbeth antwortete nicht. Sie schaute gerade vor sich hin, aber nicht auf einen bestimmten Punkt, sondern sie blickte weit in die Ferne und sie schien etwas wahrzunehmen, das mehr und mehr ihre Angst erregte. Ihre Arme hingen schlaff an dem grauen, wollenen, schwarzgemusterten Morgenrock herab und ihre kleinen, feinen, schmalen und mageren Hände leuchteten förmlich durch das Zimmer.

      „Aber


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