Minna von Barnhelm. Gotthold Ephraim Lessing
waren, wie wert er der Ihrigen war? Sie würden sein letzter Gedanke, Ihr Name der letzte Ton seiner sterbenden Lippen gewesen sein, hätte nicht die stärkere Natur dieses traurige Vorrecht für seinen unglücklichen Sohn, für seine unglückliche Gattin gefordert—
Tellheim Hören Sie auf, Madame! Weinen wollte ich mit Ihnen gern; aber ich habe heute keine Tränen. Verschonen Sie mich! Sie finden mich in einer Stunde, wo ich leicht zu verleiten wäre, wider die Vorsicht zu murren.—O mein rechtschaffner Marloff! Geschwind, gnädige Frau, was haben Sie zu befehlen? Wenn ich Ihnen zu dienen imstande bin, wenn ich es bin—
Dame Ich darf nicht abreisen, ohne seinen letzten Willen zu vollziehen. Er erinnerte sich kurz vor seinem Ende, daß er als Ihr Schuldner sterbe, und beschwor mich, diese Schuld mit der ersten Barschaft zu tilgen. Ich habe seine Equipage verkauft und komme, seine Handschrift einzulösen.—
Tellheim
Wie, gnädige Frau? darum kommen Sie?
Dame
Darum. Erlauben Sie, daß ich das Geld aufzähle.
Tellheim
Nicht doch, Madame! Marloff mir schuldig? das kann schwerlich sein.
Lassen Sie doch sehen. (Er ziehet sein Taschenbuch heraus und sucht.)
Ich finde nichts.
Dame Sie werden seine Handschrift verlegt haben, und die Handschrift tut nichts zur Sache.—Erlauben Sie—
Tellheim Nein, Madame! so etwas pflege ich nicht zu verlegen. Wenn ich sie nicht habe, so ist es ein Beweis, daß ich nie eine gehabt habe, oder daß sie getilgt und von mir schon zurückgegeben worden.
Dame
Herr Major!—
Tellheim Ganz gewiß, gnädige Frau. Nein, Marloff ist mir nichts schuldig gebleiben. Ich wüßte mich auch nicht zu erinnern, daß er mir jemals etwas schuldig gewesen wäre. Nicht anders, Madame; er hat mich vielmehr als seinen Schuldner hinterlassen. Ich habe nie etwas tun können, mich mit einem Manne abzufinden, der sechs Jahre Glück und Unglück, Ehre und Gefahr mit mir geteilet. Ich werde es nicht vergessen, daß ein Sohn von ihm da ist. Er wird mein Sohn sein, sobald ich sein Vater sein kann. Die Verwirrung, in der ich mich jetzt selbst befinde—
Dame
Edelmütiger Mann! Aber denken Sie auch von mir nicht zu klein!
Nehmen Sie das Geld, Herr Major; so bin ich wenigstens beruhiget.—
Tellheim Was brauchen Sie zu Ihrer Beruhigung weiter als meine Versicherung, daß mir dieses Geld nicht gehöret? Oder wollen Sie, daß ich die unerzogene Waise meines Freundes bestehlen soll? Bestehlen, Madame; das würde es in dem eigentlichsten Verstande sein. Ihm gehört es, für ihn legen Sie es an!—
Dame Ich verstehe Sie; verzeihen Sie nur, wenn ich noch nicht recht weiß, wie man Wohltaten annehmen muß. Woher wissen es denn aber auch Sie, daß eine Mutter mehr für ihren Sohn tut, als sie für ihr eigen Leben tun würde? Ich gehe—
Tellheim Gehen Sie, Madame, gehen Sie! Reisen Sie glücklich! Ich bitte Sie nicht, mir Nachricht von Ihnen zu geben. Sie möchte mir zu einer Zeit kommen, wo ich sie nicht nutzen könnte. Aber noch eines, gnädige Frau; bald hätte ich das Wichtigste vergessen. Marloff hat noch an der Kasse unsers ehemaligen Regiments zu fordern. Seine Forderungen sind so richtig wie die meinigen. Werden meine bezahlt, so müssen auch die seinigen bezahlt werden. Ich hafte dafür.—
Dame
Oh! Mein Herr—Aber ich schweige lieber.—Künftige Wohltaten so vorbereiten, heißt sie in den Augen des Himmels schon erwiesen haben.
Empfangen Sie seine Belohnung und meine Tränen! (Geht ab.)
7. Szene
(v. Tellheim.)
Tellheim
Armes, braves Weib! Ich muß nicht vergessen, den Bettel zu vernichten.
(Er nimmt aus seinem Taschenbuche Briefschaften, die er zerreißt.)
Wer steht mir dafür, daß eigner Mangel mich nicht einmal verleiten könnte, Gebrauch davon zu machen?
8. Szene
(Just. v. Tellheim.)
Tellheim
Bist du da?
Just (indem er sich die Augen wischt). Ja!
Tellheim
Du hast geweint?
Just Ich habe in der Küche meine Rechnung geschrieben, und die Küche ist voll Rauch. Hier ist sie, mein Herr!
Tellheim
Gib her.
Just
Haben Sie Barmherzigkeit mit mir, mein Herr. Ich Weiß wohl, daß die Menschen mit Ihnen keine haben, aber—
Tellheim
Was willst du?
Just
Ich hätte mir ehr den Tod als meinen Abschied vermutet.
Tellheim Ich kann dich nicht länger brauchen; ich muß mich ohne Bedienten behelfen lernen. (Schlägt die Rechnung auf und lieset.) "Was der Herr Major mir schuldig: Drei und einen halben Monat Lohn, den Monat 6 Taler, macht 21 Taler. Seit dem Ersten dieses an Kleinigkeiten ausgelegt 1 Taler 7 Gr. 9 Pf. Summa Summarum 22 Taler 7 Gr. 9 Pf."– Gut, und es ist billig, daß ich diesen laufenden Monat ganz bezahle.
Just
Die andere Seite, Herr Major—
Tellheim Noch mehr? (Lieset.) Was dem Herrn Major ich schuldig: An den Feldscher für mich bezahlt 25 Taler. Für Wartung und Pflege während meiner Kur für mich bezahlt 39 Taler. Meinem abgebrannten und geplünderten Vater auf meine Bitte vorgeschossen, ohne die zwei Beutepferde zu rechnen, die er ihm geschenkt, 50 Taler. Summa Summarum 114 Taler. Davon abgezogen vorstehende 22 Taler 7 Gr. 9 Pf., bleibe dem Herrn Major schuldig 91 Taler 16 Gr. 3 Pf."—Kerl, du bist toll!—
Just Ich glaube es gern, daß ich Ihnen weit mehr koste. Aber es wäre verlorne Tinte, es dazuzuschreiben. Ich kann Ihnen das nicht bezahlen, und wenn Sie mir vollends die Liverei nehmen, die ich auch noch nicht verdient habe—so wollte ich lieber, Sie hätten mich in dem Lazarette krepieren lassen.
Tellheim Wofür siehst du mich an? Du bist mir nichts schuldig, und ich will dich einem von meinen Bekannten empfehlen, bei dem du es besser haben sollst als bei mir.
Just
Ich bin Ihnen nichts schuldig, und doch wollen Sie mich verstoßen?
Tellheim
Weil ich dir nichts schuldig werden will.
Just Darum? nur darum?—So gewiß ich Ihnen schuldig bin, so gewiß Sie mir nichts schuldig werden können, so gewiß sollen Sie mich nun nicht verstoßen.—Machen Sie, was Sie wollen, Herr Major; ich bleibe bei Ihnen; ich muß bei Ihnen bleiben.—
Tellheim Und deine Hartnäckigkeit, dein Trotz, dein wildes, ungestümes Wesen gegen alle, von denen du meinest, daß sie dir nichts zu sagen haben, deine tückische Schadenfreude, deine Rachsucht—
Just Machen Sie mich so schlimm, wie Sie wollen; ich will darum doch nicht schlechter von mir denken als von meinem Hunde. Vorigen Winter ging ich in der Dämmerung an dem Kanale und hörte etwas winseln. Ich stieg herab und griff nach der Stimme und glaubte, ein Kind zu retten, und zog einen Pudel aus dem Wasser. Auch gut, dachte ich. Der Pudel kam mir nach, aber ich bin kein Liebhaber von Pudeln. Ich jagte ihn fort, umsonst; ich prügelte ihn von mir, umsonst. Ich ließ ihn des Nachts nicht in meine Kammer; er blieb vor der Türe auf der Schwelle. Wo er mir zu nahe kam, stieß ich ihn mit dem Fuße; er schrie, sahe mich an und wedelte mit dem Schwanze. Noch hat er keinen Bissen Brot aus meiner Hand bekommen, und doch bin ich der einzige, dem er hört, und der ihn anrühren darf. Er springt vor mir her und macht mir seine Künste unbefohlen vor. Es ist ein häßlicher Pudel, aber ein gar zu guter Hund. Wenn er es länger treibt, so höre ich endlich auf, den Pudeln gram zu sein.
Tellheim (beiseite). So wie ich ihm! Nein, es gibt keine völligen