Aus der Praxis. Wilhelm Walloth
die fremde Dame,« redete er den Sinnenden an, »haben Sie nie wieder etwas von ihr gehört?«
Der Maler schüttelte den Kopf.
»Das sind romantische Träumereien, mein Lieber,« fuhr der Doktor fort, »halten Sie sich jetzt wieder an die Wirklichkeit. Sie machen sich das weis, dass Sie jene unbekannte Mildtätige lieben.«
»Ich weiß auch nicht, ob ich sie liebe,« entgegnete der Kranke träumerisch, »ihre Mildtätigkeit tat mir nach dem vielen Schlimmen, Gehässigen, das ich erlebt, so unendlich wohl, erfüllte mich mit so hingebender Dankbarkeit. Und dann ihre Schönheit; wenn Sie diesen Kopf gesehen hätten, Doktor, Sie würden anders reden. Diese Feinheit, diese Durchgeistigung in allen Linien, dabei diese Weichheit des Mundes, während um die Augenbrauen ein reizender Trotz schwebte und die Augen so tief aufmerksam leuchteten – wer das gesehen, vergisst es nie wieder.«
»Nun,« unterbrach ihn der Doktor lächelnd, »jene Fremde, von der ich sprach, ist auch nicht zu verachten, wenn auch Ihr Phantasiebild, das Sie von jener anderen im Kopfe tragen, unerreichbar zu sein scheint für arme Sterbliche. Sehen Sie sich einmal das Gesicht Fräulein Pöhns an, ich finde, diese Züge könnten einem Maler unter Umständen gefallen.«
Er hielt Paul die Photographie entgegen, die dieser ohne Interesse, fast widerwillig ergriff, dann aber, da seine Hände nervös zitterten, zu Boden fallen ließ. Er bückte sich, das Bild aufzuheben, warf einen Blick darauf, zuckte wie vom Schlag gerührt zusammen und legte dann das Bild, während ihn eine tödliche Schwäche anzuwandeln schien, mit zitternden Fingern aus das Bett, auf das er langsam zurücksank.
Der Arzt sprang dem, wie von einem Krampfe Befallenen bei, spritzte ihm aus einer nebenstehenden Schüssel Wasser in das erblasste Gesicht und frug erschrocken, was ihm denn fehle, was denn geschehen sei. Er erinnerte sich, dass er dem Kranken gestern durch einen Diener eine Flasche Portwein zugeschickt; nach dieser Flasche suchte er sogleich in allen Winkeln, fand sie auch schließlich hinter der Staffelei und flößte dem nun allen Ernstes in Ohnmacht Gesunkenen einige Tropfen ein. Die belebende Wirkung des Weins blieb nicht aus. Nach einiger Zeit begannen sich die Wangen des Ohnmächtigen zu röten, seine Augen verloren ihre verglaste Starrheit und indem er die Hand seines Helfers krampfhaft an die Brust drückte, bewegte er die Lippen zum Sprechen.
»Was wollen Sie sagen, mein Freund?« frug Kahler, der ihn nicht zu verstehen vermochte, mitleidig.
»Doktor, Doktor,« brachte der Kranke mühsam hervor, »sie ist es!«
»Wer?« frug Kahler, der zu erröten begann, »es ist doch nicht —«
Der Maler nickte, während sich ein glückseliges Lächeln in seinen vergrämten Zügen Bahn brach.
»Ja, sie ist es, es ist dieselbe,« flüsterte er »eben diese Augen, eben dieser Mund, so sah sie mich an – und Sie sagen, sie liebt mich —?«
»Wie? Es ist also jene Fremde, die auf dem Schlosse, vor dem Bilde mit Ihnen sprach?« frug Kahler und wusste selbst nicht, warum ihm bei dieser Vermutung das Blut in die Wangen stieg und ein fast an Zorn grenzendes Schmerzgefühl die Brust umklammerte.
Der Maler, der sich infolge der freudigen Erregung auffallend rasch von seiner Ohnmacht erholte, erklärte nochmals, dass er sich nicht täusche. Er ließ sich noch einmal die Photographie reichen, betrachtete sie mit inniger Aufmerksamkeit und sagte dann, während ein kindliches Lächeln seine Lippen kräuselte:
»Also habe ich ihr gefallen. Sie sagen, dass sie sich nach mir erkundigt, Doktor? Reden Sie doch! Teilen Sie mir doch ihre Schicksale, ihre Familienverhältnisse mit.«
Kahler, der in ein trübes Sinnen verfallen war, bestätigte die Neigung des Mädchens und fügte ein paar flüchtige Bemerkungen über ihre Familie bei, mit sich selbst uneins, was er nun beginnen solle, ob er seine Lüge aufrecht erhalten oder dem unerfahrenen Jüngling die offene Wahrheit, die ganze unselige Erbschaftsangelegenheit auseinandersetzen solle. Endlich stand er, nach seinem Hut greifend, auf.
»Ich muss gehen,« sagte er ein wenig rau, »werde aber heute Mittag gegen 3 Uhr wieder erscheinen; wenn es Ihnen recht ist, begleitet mich Fräulein Pöhn.«
Der Maler, den die Aussicht, jene unbekannte Wohltäterin von Angesicht zu Angesicht wiederzusehen in eine momentane Aufregung versetzte, konnte kein Wort hervorbringen. Er begnügte sich, tief aufatmend mit dem Haupte zu nicken.
»Also bis heute Mittag,« sagte der Arzt, als er bereits die Türe geöffnet, »denken Sie über das Glück nach, das Ihnen bevorsteht, mein Lieber! Die Dame scheint ganz ernstliche Absichten zu haben – denken Sie an Ihre der Pflege bedürftige Gesundheit und vor allem an Ihr unvollendetes Bild —«
Der Arzt hatte diese Worte sehr hastig, fast unverständlich hervorgestoßen, die letzte Mahnung hatte er durch den Spalt der fast geschlossenen Türe in das Zimmer hereingesprochen und war dann rasch von dannen geeilt. Er kennt sie also bereits, er liebt sie, klang es in seinem Innern nach, während er die finstre Galerie entlang schritt, aber wie töricht, wie charakterlos, einem Sterbenden diese Liebe verübeln zu wollen Gewaltsam lenkte er seine Gedanken von diesem ihm peinlichen Gegenstande ab, bemerkte jedoch mit Verwunderung, wie ihm alle Gegenstände, an welchen er vorübergehen musste, in ein flimmernd rotes Licht getaucht erschienen und seine Augen, oder seine Sinne sich in einer Verfassung befanden, die ihn mehrmals den Weg verfehlen ließ, der ihm doch genau bekannt war. Das Nervensystem des jungen Menschen ist überreizt, dachte er dann, er liebt sie wohl kaum, das ist eine krankhafte, sentimentale Anwandlung. Als er dann auf die Straße vor den noch immer haltenden Wagen trat, durch dessen herabgelassenes Fenster Fräulein Emma Pöhn, ihre Erwartung verbergend, herausschaute, konnte er anfangs vor Herzklopfen kaum reden, bezwang sich jedoch und berichtete, durch welche Lüge er sich aus der Affäre gezogen. Emma sah ein, dass diese Lüge eine Notwendigkeit gewesen und wusste, obgleich sie sich eines unbehaglichen Gefühls nicht zu erwehren vermochte, nichts dagegen einzuwenden.
»Natürlich muss diese kleine Täuschung aufrechterhalten werden,« mahnte Kahler, als beide Platz genommen und der Wagen abfuhr. Emma schwieg, auch Kahler war einsilbig und prüfte zuweilen das ernste, schöne Antlitz des nachdenklichen Weibes.
»Wie lange mag er noch leben?« frug sie nach längerem Stillschweigen.
»Einen Monat vielleicht,« sagte Kahler achselzuckend, während er die heftigsten Gewissensbisse darüber empfand, dass er es nicht über sich gewinnen konnte, dem Mädchen von jenem Zusammentreffen im Ausstellungssaale und der Dankbarkeit des armen Malers zu erzählen, ebenso wie ihn bei der Aussicht, sein Patient überlebe den kommenden Monat nicht mehr, ein ihm unerklärliches Gefühl anwandelte, ein Gefühl, das er, da er den jungen Mann doch wahrhaft liebte, verdammen musste, das er mit Gewalt verscheuchen wollte und das doch immer wiederkehrte.
Indessen lag der junge Maler auf seinem Bette, von einem Glücksrausch übermannt, der sein Herz beängstigte und ihn manchmal an seiner gesunden Vernunft zweifeln ließ. Wie? Träumst du nicht dies alles? murmelte er manchmal vor sich hin.
Oder hat dir die Nachwirkung des Arseniks die Verstandeskräfte verwirrt und du hältst Eingebildetes für Wirkliches. Aber hier stand noch der Stuhl, auf dem Kahler gesessen, noch klang ihm das Wort des Arztes im Ohr nach, und da lag sie ja noch, die Photographie, da blickten sie ihn an, die düster schönen, geheimnisvoll-unheimlichen Gesichtszüge.
O diese Gesichtszüge, wie sie ihn während seines Krankseins verfolgt, wie sie auch in der tiefsten Betäubung aller seiner Sinne nicht von ihm wichen, und wie sie ihn anlächelten, wenn diese Betäubung einem leichteren Traum Platz machte. Aus dem einen edlen Charakterzug dieses Weibes konstruierte sich der Schwärmer den ganzen Charakter, und noch jetzt rührte ihn ihr mitleidiger Blick, der damals auf ihm geruht, zu Tränen. In seiner jugendlichen Phantasie stand sie wie ein überirdisches Wesen; seine Seelenleiden, Hunger und Schwäche hatten seine Liebe ins Krankhafte gesteigert.
Also ein solches Glück stand wie ein Wunder plötzlich vor ihm und wollte ihn ans Herz drücken und sagte: fasse zu, hier bin ich, du hast lang genug gelitten, ich will dich erlösen. Und sollte er zugreifen? War es nicht beschämend für ihn, ohne Kampf den Sieg zu genießen? Er sah durch sein Dachfenster über die wirr durcheinander geworfenen Dächer, überall rauchende Schornsteine, trübe