Erzählungen. Klabund
getrieben, vor und kam in leichtem, scheinbar mühelosem Galopp mit einer Pferdelänge vor Imperator durchs Ziel.
Es war eine ungeheure Aufregung, die Menge drängte an, die Reitknechte sprangen herbei – aber ehe man den Jockey Harsley, der Atalanta geritten hatte, vom Pferde heben konnte, scheute Atalanta, bäumte sich empor und warf den Jockey, der zu geschwächt war, um sich halten zu können, auf den Rasen. Er fiel so unglücklich, daß ein Holzpflock ihm in die Brust drang und er das Bewußtsein verlor. Man schrie nach dem Arzt, nach der Sanitätskolonne, die sofort zur Stelle war und ihn in die Klinik schleppte. Wochenlang rang der Jockey unter entsetzlichen Schmerzen mit dem Tode. Die Lunge wies schwere Verletzungen auf. Er spie Blut. Nacht für Nacht wachte ein Wärter an seinem Bett. Eine Schwester wurde mit ihm nicht fertig, da ihn im Fieber Wutanfälle wie wilde Hunde packten und aus den Kissen zerrten.
Und durch alle seine Fieberträume klang ein Wort, zuerst zaghaft, leise, liebkosend, dann flehender, fordernder: »Tilly«. Und schließlich fand man auch am Tage nur dies eine Wort auf seinen Lippen: »Tilly«. Man versuchte vorsichtig, ihn nach dem Sinn dieses Wortes auszuforschen, aber er erlangte ja nie volles Bewußtsein. »Vielleicht seine Braut«, sagte der Professor. Aber niemand wußte von einer Braut. »Eine Geliebte«, sagte der junge Assistenzarzt und machte ein pfiffig selbstverständliches Gesicht. Man hatte ihn nie wie die andern Jockeys mit Mädchen der Halbwelt oder Damen der Gesellschaft zusammen gesehen. Endlich riet man auf eine heimliche Geliebte. Aber hätte sie sich nicht längst nach ihm erkundigt? Hatte nicht der Unglücksfall, sentimental drapiert, in allen Zeitungen gestanden? Also eine Dame der höheren Kreise, die sich aus dem schützenden Dunkel ihrer Anonymität nicht hervorwagen darf?
Immer stürmischer, klagender, trostloser klang es von den Lippen des Kranken: »Tilly«. In einer größeren Zeitung erschien ein Feuilleton, betitelt »Tilly …«, und dann ein paar Punkte, aber es erfolgte nichts, Tilly machte sich nicht bemerkbar.
Eines Tages, als der Wärter ihm mit einer Trinkröhre das zweite Frühstück – Milch – einzuflößen suchte, sprang er, ehe man ihn halten konnte, aus dem Bette auf, schlug die Glasröhre zur Seite, daß die Milch über das Kopfkissen floß, und lehnte am Fenster. »Tilly«, flüsterte er und stierte hinaus. Unten auf der Straße hatte ein Pferd gewiehert.
Der Wärter meldete dem Professor den Vorfall. Und nun ward es allen klar: er sehnte sich nach einem Pferde namens Tilly. Das war nun bald im Stalle des Herrn v. W., des Brotherrn Harsleys, gefunden. Es war jene Atalanta, die der Jockey für sich Tilly getauft hatte. Und er hatte sie nur für sich so getauft, keiner sonst durfte sie so nennen.
»Wir wollen ihm die Freude gönnen«, sagte der Professor, »er hat sowieso höchstens noch eine Woche.«
Und an einem warmen Morgen fuhr man den kranken Jockey, in Decken gepackt, auf den Hof des Krankenhauses. Ein glasklarer, blauer Himmel wölbte sich über den Gebäuden und glitzerte hinter dem grünen Laub der Linden. Einige Rekonvaleszenten der dritten Abteilung gingen in ihren grauschmutzigen Anstaltskleidern stumm und beschaulich auf den strahlenden Kieswegen.
Plötzlich wurde das Tor am Portierhaus geöffnet und Atalanta von einem Diener hereingeführt. Sie tänzelte mit kleinen, koketten Schritten, schlug mit dem Schwanz und steckte den Kopf steif und gerade in die Sonne. Auf ihrem braunen, glatten Fell spiegelten blitzende Glanzlichter.
Der Jockey hatte die Lider geschlossen.
Als er Atalantas Gang hörte, riß er sie auf und hob freudig die Arme. Nun wieherte sie – ganz nahe bei ihm. Und stand still. Er konnte ihren Kopf greifen. Er zitterte und weinte. Der Wärter richtete ihn in den Kissen auf, da packte er mit beiden Händen ihren Kopf, zog ihn zu sich nieder und küßte ihr breites, heuduftendes Maul, um das in kaum sichtbaren weißen Wölkchen ihr Atem schnob.
»Tilly«, sagte er lächelnd und sank zurück, glückselig aufatmend.
Der Professor gab ein Zeichen: man solle das Tier wieder fortführen. Tilly sah ihn mit einem langen, glatten Blick an und wandte sich scharrend um. Ehe man zur Besinnung kam, schlug sie aus und traf den Jockey mitten auf die Stirn. Er war sofort tot.
»Ein ergreifender Tod«, sagte der alte Professor.
»… von seiner Geliebten ins Jenseits befördert zu werden«, sagte der junge Assistenzarzt und schrieb den Totenschein.
Der Kammerdiener
Im Gefolge des Grafen R., dem sein außerordentliches Vermögen die kostspieligsten Marotten und Vaganzen gestattete, befand sich ein junger Mann, der, anfangs von wenigen beachtet, im Lauf sonderbarer Geschehnisse, die sich erst von rückwärts gesehen als sonderbar herausstellten, für einen Tag wenigstens das Gespräch nicht nur der engeren Umgebung des Grafen, sondern der ganzen Welt bilden sollte. Der Graf hatte ihn auf Grund vorzüglicher Zeugnisse, die er vorwies, als Kammerdiener engagiert. Albert erwarb sich in den ersten Tagen durch seine feinen und stillen Manieren das weiteste Vertrauen des Grafen. Er las ihm seine Wünsche von Blick und Gebärde ab und verrichtete seine Dienste mit fanatischem Eifer, der den Grafen in nicht geringe Verwunderung versetzte, bis er sich allmählich daran gewöhnte, ja die Behutsamkeit und Unaufdringlichkeit seines Wesens nicht mehr entbehren und immer um sich haben mochte. Albert war etwa zweiundzwanzig Jahre alt. Er trug das schwarze, leise bläulich schimmernde Haar in der Mitte gescheitelt, seine hellen Augen wurden von sehr langen Wimpern beschützt, so daß ein scharfer, blitzender Blick zuweilen wie eine Lanze aus dem Dickicht hervorbrach. Die Nase war ein wenig gehöckert: das Gesicht erschien nicht verunstaltet, seine sonst weichen Züge energischer dadurch gezeichnet. Auf der Oberlippe lag ein schwach bläulicher Glanz. Das schönste an ihm waren seine schmalen, kleinen Hände. Der Graf enthielt sich manchmal nicht, sie zu streicheln. »Du bist ein Aristokrat, Albert«, sagte er lächelnd. »Es ist, als wären sie von den Erinnerungen an ihre Väter so krank und blaß.«
»Von ihrer Hoffnung«, erwiderte Albert. Der Graf sah ihn erstaunt an.
Der Graf vertraute Albert auch seine mannigfachen Liebesangelegenheiten. Er gab ihm alle Aufträge mündlich, brauchte nur wenige andeutende Worte zu machen, so begriff ihn Albert völlig. Er war so nicht nur längerer Auseinandersetzungen, sondern auch längeren Nachdenkens, das ihm Albert vordachte, enthoben. Die Mätressen des Grafen sahen den jungen, seiner selbst so bewußten Mann, der wenig redete und immer viel erreichte, nicht ungern. Manch eine verliebte sich in seinen schlanken Gang, der in seiner Gemessenheit etwas Berechnendes, etwas Koketterie offenbarte, und gab ihm verstohlene Winke. Er sah es und lächelte still abweisend und melancholisch.
Eines Morgens, als Albert in das Schlafzimmer des Grafen trat, ihm beim Ankleiden behilflich zu sein, rief ihn der Graf zu sich heran. Er hatte auf der Bettdecke ein rotsamtnes Kästchen liegen, öffnete es durch einen Druck auf einen verborgenen Knopf und entnahm ihm einen goldenen, mit einem riesigen Türkis geschmückten Ring. Ohne etwas zu sagen, griff er nach Alberts Hand und steckte ihn an. Albert zitterte, seine Augen öffneten sich erschreckt, sein Atem keuchte. Dann fiel er vor dem Grafen nieder, Tränen stürzten ihm hervor, und er küßte seine Hände. Dann wieder sprang er plötzlich empor, sah auf den Grafen mit einem entsetzten Blick und stürmte zur Tür hinaus.
Dem Grafen wollte dieser Vorfall einige Tage nicht aus dem Kopf. Derartig überströmende Gefühlsergüsse war er bei seinen Dienern nie gewohnt gewesen, deren Dank für erwiesene Wohltaten sich stets nur äußerlich und kalt gezeigt hatte. War es bei Albert Dankbarkeit, Verwirrung über das kostbare Geschenk, die ihn so aus der Regelmäßigkeit seiner beherrschten und abgezirkelten Bewegungen und Gefühle warfen? Er dachte daran, Albert zu befragen. Er dachte, es wäre psychologisch doch sehr interessant … aber er wagte es schließlich nicht, aus Furcht, ihm unbekannte Wunden seiner Seele ohne Willen aufzureißen. Denn dieser war der erste Diener, der ihm so etwas wie eine Seele zu haben schien. Nach einer Woche hatte er die, wie er endlich meinte, geringfügigen Schmerzen seines Dieners in neuen Abenteuern und Vergnügungen vergessen.
Albert trug den Ring mit einer heiligen Scheu, die ihn nicht aus der Hand gab und auch nicht nachts von den Fingern löste. Vom übrigen Dienstpersonal, von dem er sich, soweit es anging, bisher schon ferngehalten hatte, trennte er sich nun gänzlich, da man, eifersüchtig auf seine bevorzugte Stellung beim Grafen, in groben und gemeinen Worten hinterlistig auf unsittliche Beziehungen zwischen ihm und dem Grafen anspielte. Es