Adams Söhne. Adolf von Wilbrandt
gekommen, wenn er’s nicht gewusst hätte.
»Nun, und wenn Sie draußen steh’n«, fuhr Afinger fort, indem er wieder heraustrat, – »was sagen Sie dann? Dann sagen Sie wie alle andern: das ist eine Blutbuche und hat rote Blätter! So ist alles Betrug, Herr! In der Natur wie bei uns! – Kommen Sie, ich will Ihnen noch so einen Prachtbaum zeigen…«
Er ging voran, zu einem gewaltigen Kastanienbaum, der sein dichtes Laub in herrlicher Rundung ausgebreitet hatte.
»Bitte, treten Sie auch hier gefälligst unter, seh’n Sie drinnen um sich! Seh’n Sie überall hinauf!«—
Berthold tat es und war überrascht: so viele verkümmerte, gelbe, herbstlich vergehende Blätter zeigten ihm ihr trauriges, verborgenes Dasein, im Innern dieser entzückenden Laubkrone.
»Nicht wahr«, rief Afinger aus, »da sagen Sie nicht, ›wie schön das ist!‹ – Und so ist’s bei den andern Bäumen auch, überall; treten Sie unter welchen Sie wollen. Glauben Sie auch nicht, weil wir ›Juli‹ schreiben, erst die Sommerhitze hätte das gemacht; das war schon im Mai so. Herr, so ist’s auch bei uns! Alles ungerecht! Die einen haben alle Sonne, die andern nicht einen Strahl. Die einen grünen und gedeihen vom ersten bis zum letzten Tag, die andern kommen schon als elende, kranke Blätter auf die Welt. Warum? Weil ihnen die andern alle Sonne nehmen. Das ändert man nicht mit der ›Liebe‹, Herr! Da muss was anderes helfen!«
»Und was soll man denn tun?« fragte Berthold nachdenklich.
»Was? Luft und Licht schaffen! Die zu üppigen Zweige weghauen, damit die ›Stiefzweige‹ auch ihre Sonne kriegen!«
»Die edlen Bäume verstümmeln?«
»Ah bah!« rief Afinger mit seiner harten, schneidenden Stimme. »Was liegt daran! – In den Ofen mit ihnen, wenn nicht Licht wird für alle!«
Berthold erwiderte nichts. Er sah in das Gesicht des andern, das sich gerötet hatte, und fühlte sich von einem heißen, fanatischen Glanz in dessen Augen getroffen, der in ihm selber etwas gefrieren machte. Dennoch fesselte ihn dieses harte, grob geformte, aber schwärmerisch vergeistigte Gesicht. ›Ein Kunstschlosser‹, dachte er, ›und mit was für Augen sieht er in die Welt, mit was für einem Herzen eifert er für die „Stiefkinder der Natur“. Was tut denn ihr, ihr Gebildeten? Ihr Reichen? Ist der da mit dem Knotenstock nicht hundertmal mehr als ihr? Er hasst euch, er will euch zu Boden drücken; aber wer ist daran schuld?‹
Berthold trat schweigend unter dem Baum hervor und ging langsam weiter. Das Elend der Welt lag ihm schwer auf dem jungen Herzen. Auch der andere schwieg, und forschte nur von der Seite in dem rosig angehauchten, erregten Antlitz. Sie gingen in gleichem Schritt nebeneinander her.
»Dass Sie mich nur auch recht versteh’n«, sagte Afinger endlich, indem er seinen Stock langsam, von Zeit zu Zeit, durch die Luft niedersinken ließ. »Für mich will ich nichts! Ich kann mein Handwerk und ich hab’ mein Brot. Ein Schloss wünsch’ ich mir nicht. Ehrgeiz hab’ ich nicht. Ich kann’s nur nicht ruhig mit ansehen, dass die Welt verkehrt steht; und wenn ich einsehe: damit sie richtig wird, muss man sie auf den Kopf stellen, – so stell’ ich sie auf den Kopf! – Jetzt nur in Gedanken, versteht sich – aber von ganzem Herzen. Und das tun Sie auch, Herr, oder – nehmen Sie’s nicht übel – oder Ihre ganze Menschenliebe ist nur Kinderei! Alte Weiber gibt’s – von beiderlei Geschlecht – die wimmern und winseln so von der Menschenliebe, und stricken Strümpfchen oder schmieren Traktätchen, und legen sich dann zufrieden aufs Ohr und auf ihr ›gutes Gewissen‹. Zu diesen frommen Missgeburten gehören Sie ja doch nicht. Sie mit Ihrem feinen Gesicht, Sie haben das Feuer in sich, das den Märtyrer macht. Oder wären Sie nicht ganz bereit dazu, für Ihre armen, unterdrückten Brüder sich aufzuopfern? Für eine große Sache zu sterben?«
Berthold begann vor Erregung leise am ganzen Körper zu zittern.
»Ob ich das möchte!« sagte er nur, weiter nichts.
Seine blassen Wangen erglühten.
»Ich wusst’ es ja«, entgegnete Afinger. »Es gibt Leute genug, die uns ausholen, die uns täuschen wollen; aber Sie können nicht täuschen. In Ihnen – — in Ihnen steckt etwas Großes, glauben Sie mir das; wenn Sie nur nicht zu sanft und fromm bei der ›Liebe‹ bleiben. Ich hab’ einmal ein Bild vom heiligen Georg geseh’n, wie er den Lindwurm tötet; er sitzt zu Pferd, mit seinem langen Spieß; – der hatte auch so ein junges, feines, sonderbar schönes Gesicht. Nu ja, warum soll ich’s nicht sagen; ’s ist die reine Wahrheit; schmeicheln tu’ ich nicht. Aber der schöne Jüngling, der Georg, fackelte nicht lange, er stieß dem großen Ungeheuer, dem Drachen, dem Weltscheusal seinen Speer in den Leib!«
»O, ich wollte wohl«, sagte Berthold, dem die Stimme vor Bewegung stockte. »Große Dinge müssen geschehen, das weiß ich. Schonen würd’ ich mich nicht!«
»Nun also!«
»Aber was soll man tun?«
Afinger blieb steh’n. Mit beiden Händen auf seinen Stock gestützt sah er dem Jüngling so fest und scharf in die Augen, dass dieser sich anstrengen musste, den Blick auszuhalten.
»Das könnt’ ich Ihnen sagen«, fing er dann langsam an. »Aber jetzt – — jetzt sind Sie erschöpft von dem langen Fasten; und Sie wollen zu Ihrem Vater nach Grödig, und ich muss nach Salzburg. Wie lange bleiben Sie in dieser Gegend, Herr Wittekind?«
»Ich weiß es noch nicht. – Nach Salzburg komm’ ich ganz gewiss zurück.«
»Wollen Sie mich da besuchen, Herr? Und noch so ein paar Schwärmer und Lindwurmtöter bei mir kennenlernen? Junge Kerle von Herz, die Mark in den Knochen haben?«
»Wo wohnen Sie?« fragte Berthold.
»Am Kapuzinerberg; aber auf der Nordseite, an der Straße nach Ischl.«—
Er beschrieb ihm das Haus genau. —
»Eine kleine Bude, mein Zimmer; ich gehör’ ja eben auch zu den ›Stiefkindern‹. Würden Sie kommen, Herr?«
»Ganz gewiss. Da haben Sie meine Hand!«
»Teufel, ist das eine feine Hand«, sagte Afinger lächelnd, indem er sie mit seiner derben, rauen Faust eine Weile umschlossen hielt. »Aber das tut nichts; Sie haben das Herz auf dem rechten Fleck. Wie der Sankt Georg. Also ich zähl’ auf Sie! Jeden Abend in dieser Woche, gegen sieben Uhr, träfen Sie mich gewiss.«
»Ich komme!«
»Nun, dann leben Sie wohl. Da geht Ihr Weg weiter gegen Grödig; dort liegt’s. Eine gute Viertelstunde, wenn Sie ausschreiten; – ich wundre mich nur, dass Sie nach diesen Hungertagen noch so rüstig sind. Ja, ja, es ist Kraft in Ihnen. Mein Weg geht hier rechts zur Bahn. Sie müssen aber heute noch essen; lieber Herr, Sie seh’n doch erbärmlich aus. Sie können Besseres tun, als fasten; und Sie werden es tun! Adieu!«
Er gab ihm noch einmal die Hand, und nickte ihm zu, mit einem wirklich warmen, herzlichen Blick. Dann lüftete er höflich den Hut. Im nächsten Augenblick ging er mit großen Schritten nach rechts auf das Schienengeleise zu, auf dem eben vom Gebirge her ein Bahnzug heranrollte.
Berthold sah ihm noch eine Weile nach; darauf schritt er auch seines Weges weiter. Eine Art von Nebel lag ihm vor den Augen, ein Gefühl von Taumel im Hirn; war es nur die Hungersschwäche, die ihm wieder fühlbar ward, oder auch die Erregung, die Nachwirkung dieses merkwürdigen Gesprächs? Seine Füße gingen nicht sicher, und darum desto hastiger. ›Sankt Georg!‹ dachte er; und mit halblauter Stimme sagte er dann mehrmals, wie von einer gewissen Freude trunken, vor sich hin: »Sankt Georg! – Ja, etwas Großes tun; etwas tun für die arme Menschheit; sich zum Opfer bringen…«
Er suchte den stechenden, wühlenden Schmerz nicht zu fühlen, der sich in ihm rührte. Er bemühte sich, über diesen neuen Menschen, diesen Afinger nachzudenken, sich ein klares Bild von dessen Seele zu machen: was war er denn eigentlich, dieser derbknochige, harte, aufgeregte, dann kalte, dann schwärmerisch bewegte Mensch? War er edel? Gut? Verbittert? Rücksichtslos revolutionär? – Sein junger, unerfahrener Kopf, jetzt von diesem Taumel durchwogt, konnte die Fragen nicht lösen, die Gestalt nicht fassen. Die Sonne, die ihm gegenüberstand, glühte ihm so blendend in die