Adams Söhne. Adolf von Wilbrandt
brüderlich, so glücklich. Ach, es muss wohl eine Wonne sein, wenn sich Vater und Sohn so von Herzen lieben!«
Wittekind erstaunte, mit welcher Bewegung die junge Frau dies sagte. Ihre Stimme erzitterte. Er stand neben ihr und sah nur ihr Profil; er glaubte aber eine Träne, einen zarten, regungslosen Tropfen in ihrem Auge zu seh’n.
›Was ist das nun wieder?‹ dachte er. ›Warum rührt es sie so, an die Liebe zwischen einem Vater und seinem Sohn zu denken?‹
Die Dame wandte sich eine Weile von ihm ab; sie schien ihre Augen wie zufällig mit den Fingern zu berühren; Wittekind sah eine nicht kleine, auch nicht sonderlich schmale, aber wohlgebildete und charaktervolle Hand. Sie hatte, während sie heraufstiegen, nur von Dingen, die nichts bedeuten, von den kleinen Reiseerlebnissen gesprochen. Jetzt sah sie ihn auf einmal mit einem ernsten Frageblick an und sagte, etwas zögernd:
»Sie sind also ein Jugendfreund des Geheimrats von Waldenburg?«
»Von der Schule her«, erwiderte Wittekind. »Das heißt, auf der Schule kamen wir einander nicht sehr nahe (außer mit den Fäusten, dachte er); Waldenburg war der Ältere und Gescheitere; unternehmend, witzig, frühreif, schon damals voll ehrgeiziger Träume und Gedanken; und was man so gewöhnlich ›Ehrgeiz‹ nennt, das hat mich nie gequält. Aber auf der Universität trafen wir uns wieder; und hernach auf Reisen. Der Unterschied der Jahre, der war ausgeglichen; der an Geist und Witz freilich, der blieb. Keiner von uns allen, die miteinander jung waren, kam ihm darin gleich; er hatte Geist für zwei, und schon als junger Mann hatte er die Kunst, die Menschen so zu führen, wie es ihm dienlich ist, und aus der Welt das zu machen, was er von ihr will!«
Frau von Tarnow erwiderte nichts, sie ließ nur einen unverständlichen, leisen Laut vernehmen und sah auf den Mond, der als blasse, noch nicht ganz gefüllte Scheibe über den östlichen Bergen schwebte. Wittekind fuhr fort von Waldenburg zu sprechen; er erzählte heitere und witzige Geschichten, die seiner Gewandtheit und Geistesgegenwart alle Ehre machten. Eine Weile hörte sie zu, ohne sich zu rühren.
Dann entfuhr ihr aber eine ungeduldige Bewegung, und mit einem eigentümlichen Ausdruck von edler Traurigkeit legte sie sich eine Hand an die Wange.
»Warum reden Sie so obenhin zu mir?« sagte sie, ihn fest anblickend. »Denken Sie, ich weiß nicht, dass er einen guten Kopf, aber kein gutes Herz hat?«
Überrascht starrte Wittekind sie an. Sie errötete leicht; sonst war ihr Gesicht wieder so blass, wie da er sie zuerst gesehen hatte. Eine Welt von Schicksalen und Schmerzen schien auf diesem jungen Antlitz zu liegen. Er wusste nicht, was er denken, was er sagen sollte. Sein Herz zog sich zusammen; – warum? – —
»Verzeihen Sie«, sagte er endlich, um etwas zu sagen. »Ich wusste nicht – — Wie lange kennen Sie ihn?«
»Kurz – und lang!« antwortete sie langsam. »Aber andre – — andre kennen ihn«, setzte sie wie sich verbessernd hinzu. »Sind Sie andrer Meinung? Glauben Sie an sein Herz?«
Sie blickte ihm in die Augen, als wünschte sie darin etwas Tröstliches zu lesen. Wittekinds Staunen und Verwirrung wuchs. Nicht weil er sich zu einer Fremden über den ›Jugendfreund‹ offen äußern sollte: er war gewohnt, aufrichtig zu reden, und diese ernste junge Frau schien ihm gar nicht mehr fremd zu sein. Es beklemmte ihn nur ein banges Gefühl: was war dieser Waldenburg ihr?
Das letzte Licht auf den Dachstein-Gletschern war unterdessen erloschen, farblos und kalt dämmerten sie aus der blassen Ferne. Wittekind hob eine Hand und deutete hinaus. Mit etwas unsicherer Stimme sagte er:
»Seh’n Sie, wie die Eisfelder kalt geworden sind. Vorhin, als sie so schön rosig beleuchtet waren, sahen sie fast warm aus. So ungefähr dachten wir auch von Freund Waldenburgs Herzen, als noch der erste Glanz der Jugend – — Sie versteh’n, wie ich’s meine. Jetzt denk’ ich: kalt wie Eis.«
Sie antwortete nicht. Ein flüchtiger Schauer schien nur über sie hinzufliegen. Sie hatte auf einer der Bänke gesessen; leise und langsam erhob sie sich und trat wieder an das Geländer, das aus Fichtenästen roh gezimmert war.
Vor sich hin murmelte sie:
»Und ich muss doch versuchen…«
Indessen wie vor ihrer eigenen Stimme erschreckend brach sie wieder ab.
›Was ist ihr Waldenburg?‹ dachte Wittekind wieder. ›Was mir da durch den Kopf fährt, das ist ja verrückt … Sagte er mir nicht selbst in Grödig: „Lieber Freund, ich wollte, ich wüsste, was ihr fehlt?“ Und „um sie zu heilen“, setzte er mit seinem Don-Juans-Gesicht hinzu. Also er wünscht etwa; weiter nichts. … Aber was fragt sie dann so? Was bewegt sie so? Was will sie „versuchen“?‹
Der Mond hatte mittlerweile, da die Nacht hereinsank, Gold und Glanz gewonnen; er schwebte höher hinauf, die Schatten, die man sah, waren Mondesschatten, die Farben der Häuser, der Dächer, der Felder, Straßen und Berge schienen die Wirkungen seines Lichts zu sein. Frau von Tarnow, beide Hände auf das Geländer gelegt, starrte in die Tiefe.
»Wie anders die Welt nun aussieht!« sagte sie nach einer Weile, offenbar um das Gespräch über Waldenburg zu beenden.
»Der Mond hat sie nun«, entgegnete Wittekind.
»Ja, nun hat sie der Mond. Wie blass, wie schwach nun da unten alle Farben sind. Das Haus da am Wasser, es erscheint wohl noch gelb, und sein Dach noch rot; und die Bäume grün; aber alles doch nur wie eine Ahnung von dem, was es war. Wie Farben ohne Körper – oder ohne Seele. Nicht wahr?«
Wittekind nickte nur. Alles, was diese Frau da sagte, ging ihm so eigen durchs Herz.
»Wenn das nun immer so bliebe«, fuhr sie leiser fort; »wenn das unser Tag wäre – unser einziger! Eine Art von Tag wäre es ja auch. Wir gingen ›im Licht‹ umher, könnten alles sehen und erkennen. Wir könnten auch sagen wie jetzt: das ist gelb, das ist rot. Und wenn wir keine Erinnerung an die Sonne hätten und all die glühenden Farben, so würden wir ja wohl auch mit diesem Dämmerlicht ganz zufrieden sein.«
»An was gewöhnte sich nicht der Mensch!« murmelte Wittekind.
»Und wenn es nun auch in uns ebenso würde, wie draußen!« fuhr sie nach kurzem, träumerischem Sinnen fort. »Alles Dämmerung, Frieden. Mondseelen, statt Sonnenseelen; ohne Sonnenschein, aber auch ohne Feuer, ohne Glut, ohne Leidenschaften. Man ginge so still dahin; etwas schattenhaft – aber man wüsste es ja nicht anders, man vermisste ja nichts. Ach, es wäre wohl —«
›Gut‹, wollte sie sagen; aber sie sprach es nicht aus, Mit einer plötzlichen Bewegung, die noch viel von der ›Sonnenseele‹ hatte, schüttelte sie sich.
»Nein, es wäre nicht gut!« sagte sie mit stärkerer Stimme. »Wozu dann noch leben? Dann lieber gleich ganz tot. Nein – es muss nun so bleiben wie es ist. … Aber ich kann den Mond nicht mehr seh’n!« setzte sie hinzu, indem sie Kopf und Schultern wieder schüttelte.
Sie wandte sich ab. Nun erblickte sie den vom Mond beleuchteten Saltner, der von der Hütte her über den schrägen, steinigen Boden langsam herunterkam, und dessen weißer Bart in diesem Licht fast geisterhaft schimmerte. Sie stieß ein paar Worte aus, die Wittekind nicht verstand.
»Ich saß da in der Hütte«, sagte der Alte ruhig; »in Erinnerungen. Ein Abend, der sich dazu eignet!«
Frau von Tarnow sah ihn schweigend an. Obwohl die beiden weder durch Worte, noch durch Gebärden ihren Gedanken verrieten, fühlte Wittekind doch, dass sie den Wunsch hätten, eine Weile allein zu sein. Er blickte in die Senkung und zum Wirtshaus hinunter, in dem nun schon Lichter glänzten, und warf wie verloren hin:
»Man muss wohl nach Hause geh’n.«
Darauf schritt er langsam auf die Bäume zu und betrat wieder den Waldweg, den der Mond beschien.
Die beiden blieben steh’n. Wittekind ging weiter. Er sah nicht zurück; in seine eigenen Gedanken über Mond und Sonnen-Seelen versinkend. Es schreckte ihn dann aber ein unerwarteter, zitternder Ton auf, der wie plötzliches Weinen klang; unwillkürlich blickte er zurück. Zwischen den Bäumen durch sah er, wie die junge Frau sich an die hohe, breite Brust des Alten warf, und er konnte sich nicht täuschen: sie schluchzte, laut und