Fridolins heimliche Ehe. Adolf von Wilbrandt
war aus.
Der Professor blieb stehen und sah ihr nach. Zwischen seine Augenbrauen legten sich neue Falten; es schien ihm nicht ganz zu gefallen, daß das Unwetter schon aus war. Er trat an eine der Etageren, die das Zimmer verbauen halfen, nahm seinen Hut und hätte ihn beinahe aufgesetzt; doch zwei Schritte weiter setzte er ihn wieder aufs Klavier. Er sah nach der Klingelschnur, wie wenn er den unentschieden gebliebenen Kampf mit Frau Ritter erneuern wollte. Sein zweiter Blick fiel jedoch auf die Uhr; er nahm den Hut wieder auf. Dann trat er an die Thür, um sein Auge auf einen Zettel zu werfen, den er unter den großen Kalender genagelt hatte, mit folgender Inschrift:
»Fridoline! Ne quam immemor sis te philosophum esse.«
Zu deutsch:
»Fridolin! Vergiß nie, daß du ein Philosoph bist.«
»Te philosophum esse!« wiederholte er vor sich hin. Die Thür ging zurück; er glaubte Frau Ritters Gang wieder zu hören und zwang seinem Gesicht den Ausdruck philosophischer Ruhe auf. Indessen sein Ohr hatte sich getäuscht. Es erschienen zwar wieder ein paar geräuschlose Schuhe, aber es bewegte sich auf ihnen eine männliche Gestalt. Ein langer, graublasser Mensch in einem dunkelgrauen Schlafrock, mit graublondem Haar; die Schultern ebenso schmal und abfallend, wie die des Professors ins Wagerechte strebten; das lange Haar hinter die Ohren gestrichen, die mattgrauen, träumerischen Augen aus knochigen Höhlungen hervordämmernd. Dieser lange Mensch sagte kein Wort, sondern nickte dem andern nur zu; kam dann mit ein paar schwerfällig schleifenden Schritten heran und reichte ihm seine große Hand.
Der Professor nahm sie, ebenso stumm, und bückte sich dann, um ein ledernes Täschchen aufzuheben, das der Schlafrock bei diesen schaufelnden Bewegungen von der nächsten Etagere gerissen hatte.
»Habe ich wieder etwas —?« fragte der Lange und machte ein ängstliches Gesicht.
»Ja. Dieses Täschchen. Zum sechstenmal, teurer Bruder.«
»Wehe! – Zerbrochen?«
»Nein. Ledertaschen zerbrechen nicht.«
»Dieses unglückselige Zimmer! – Mußte das Täschchen da liegen?«
»Ja, es mußte.«
Der Lange betrachtete das Täschchen. Er lächelte. »Ich muß unmaßgeblich bemerken,« sagte er, »daß ich nicht begreife, wozu du das Täschchen brauchst.«
»Es gibt eine höhere Art, Dinge zu gebrauchen, mein lieber Philipp, als daß man sie auf die gemeine, tagtägliche Weise abnützt.«
»Ich kann nämlich nicht finden,« fuhr der Lange fort, »daß dieses Täschchen ein Herrentäschchen ist.«
»Nein, sondern ein Damentäschchen.«
»Und wozu brauchst du es also?«
»Ich hab' es um mich. Ich hab' es vor Augen. Dieweil es ein Andenken ist.«
»Ein Andenken!« wiederholte der Lange mit weicher werdender Stimme. Dann verstummte er. Seine Augen sahen träumend, gleichsam durch das Täschchen hindurch, in die Luft, ins Ferne. Sie zogen sich zusammen, wie um ein zu ihnen aussteigendes Gefühl zu unterdrücken. Zuletzt nahm er das Täschchen in die Hand und nickte ihm mit wehmütig langsamen Bewegungen zu, als wär' es ein Andenken, das ihn betreffe. Er wiegte es mit seinem langen Arm hin und her. Der Professor störte ihn nicht.
»Fridolin!« sagte er endlich, als dieser, den Hut auf dem Kopf, schon in die Thür getreten war, um zu gehn.
»Adieu, mein Sohn. Ich muß fort.« »Ja so, du mußt fort. Ich wollte dir noch etwas sagen.«
»Wenn ich wiederkomme!«
»Wenn du wiederkommst, dann sind auch deine jungen Leute, deine Leibschwaben, deine Kunstjünger da; dann kann ich nicht, wie Bruder zum Bruder, mit dir reden. Eine Minute, Fridolin! Hast du noch eine Minute?«
»Zwei hab' ich noch übrig,« erwiderte Fridolin und sah nach der Uhr.
»Ich hab' mir's wieder überlegt, Kunstbruder;« der Lange, indem er das sagte, suchte scherzhaft zu lächeln. »Ich bin nun ganz mit mir einig. Auf den Rest meines Urlaubs werde ich verzichten. Morgen früh werd' ich abreisen. Ich bin dir zur Last.«
»Was bist du?« – Fridolin trat unwillkürlich wieder ins Zimmer hinein, wie um besser zu hören. »Ein Hansnarr bist du!« setzte er dann gefaßter hinzu.
»Da ist zunächst Judica,« fuhr Bruder Philipp mit seiner etwas tonlosen Kanzelstimme ruhig fort, während er das Täschchen wieder auf und nieder wiegte. »Das Kind ist unterhaltend, sagst du; es erheitert dich, sagst du. Ich danke dir. Ja, es ist vielleicht ein unterhaltendes Kind. Aber es ist ein unerzogenes Kind – ein Kind, dem die Mutter fehlt«
Hier wurde er zunächst still; und ohne ihn zu sehen, hätte man schon an der Art seines Verstummens gehört, daß ein ungetrösteter Witwer gesprochen hatte.
»Nun, wir lassen ihr ja eine Erzieherin kommen, wenigstens ein Stück von einer Mutter,« entgegnete Fridolin.
»Da ist dann also zweitens die Erzieherin,« fing Bruder Philipp, den Faden seiner Logik fortspinnend, wieder an. »Wir kennen sie nicht; sie kann auch unterhaltend sein; sie kann das Gegenteil sein. Du bist der liebenswürdigste Verehrer der Weiblichkeit, wenn sie dir – Kopf und Herz etwas warm machen; aber sie sind dir zuwider wie die Spinnen, wenn sie dich langweilen. Soll ich mir vielleicht übermorgen schon sagen: die Erzieherin meiner Judica ist ihm zuwider wie eine Spinne, und ich hab' ihm diese Spinne in seine Schachtel gesetzt?«
»Bei alledem muß ich fort,« erwiderte Fridolin, der wieder auf die Uhr sah.
»Da bin dann also drittens ich,« fuhr der Bruder fort, der bei der Vertiefung in sein Thema keine Unterbrechung mehr hörte. »Ein morsches Stück Fleisch, dem sein bißchen Leben und Glück abhanden gekommen ist; eine traurige Ruine. Ganz und gar der Gegensatz zu dir. Ich rege dich durch den Gegensatz an, sagst du. Ich danke dir. Aber was zahlst du für diese Anregung, Fridolin? Du hast in deiner großen Junggesellenwohnung bequem gelebt wie ein Prinz; jetzt schläfst du in deinem Studierzimmer —«
»Im Schutz Apollos!« rief Fridolin dazwischen, den Zeigefinger auf den Apollo von Belvedere gerichtet, der, in der Ecke auf eine Säule gestellt, über dem Bett emporragte.
»Es war schon vordem immer nur die Frage, ob man in deinen Zimmern sich selbst, oder irgend einer Gipsfigur den Hals brechen werde; jetzt ist es mir rein unbegreiflich, daß wir nicht jeden Morgen und jeden Abend einen Schwerverwundeten hinaustragen. Und für was opferst du dich auf? Weil du mich ›retten‹ wolltest, wie du sagtest; weil du mich aus meinem verödeten kleinen Nest in andere Luft bringen wolltest; weil du mich zerstreuen und erheitern wolltest. Du wirst mich nicht retten, Fridolin. Ich bin noch jung, sagst du. Aber du wirst mich nicht zerstreuen und erheitern. Du wirst sehen, daß du mich weder zerstreuen, noch erheitern kannst; denn mir ist nicht zu helfen.«
»Ich werde dich noch sowohl zerstreuen, als auch erheitern; aber jetzt muß ich fort!«
»Denn da ist nun noch viertens meine unglückselige Neigung, alles ernsthaft zu nehmen, über alles zu disputieren, mich gegen jeden Widerspruch zu ereifern Du willst gehn? Gut, ich gehe mit.«
»So nimm deinen Hut!«
»Ich nehme meinen Hut —« (Er griff nach dem Klavier, nahm aber statt eines Hutes Fridolins rotes Fez in die Hand, blieb stehn und fuhr fort:) »Meine geradezu unüberwindliche Unart, aus Anhänglichkeit an meine Ueberzeugungen bockbeinig, ausfällig, sogar grob zu werden; eine Unart, von der d u mich leider am wenigsten kurieren kannst, weil deine Lebhaftigkeit, deine Hitze mich nur immer von neuem reizt —«
»Ein Viertel auf Sechs!« rief Fridolin aus und trat ins andere Zimmer, um nun endlich zu gehn.
»Wie leider wieder heute nachmittag,« fuhr Philipp fort, »als ich mich fortreißen ließ, unbrüderlicherweise heftig zu werden; weil du in diesem unseligen Kampf des Staats gegen die Kirche dich des geradezu gewaltthätigen Staats mit einem Ungestüm annahmst —«
»Des gewaltthätigen Staats?« rief Fridolin zurück. »Mein teurer Philippus, gegen dieses Wort könnt' ich dir Dinge sagen – Gegenbeweise – wenn ich