Das Frühlicht. Henri Barbusse

Das Frühlicht - Henri Barbusse


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      Das Frühlicht

      Das Säulentor

      – Heut ist es neblig. Wollen wir gehn?

      Poterloo hat diese Frage an mich gerichtet und sieht mich an mit seinem gutmütigen, blonden Kopf, dem das blaue Augenpaar eine gewisse Durchsichtigkeit verleiht.

      Poterloo ist von Souchez gebürtig, und seit die Jäger Souchez endlich wieder zurückerobert haben, möchte er das Dorf wiedersehn; er hat dort einst glücklich gelebt, zur Zeit, als er noch ein Mensch war.

      Eine gefährliche Wallfahrt. Nicht, dass es weit wäre; Souchez liegt dort ganz in der Nähe. Seit sechs Monaten sitzen und arbeiten wir, sozusagen auf Sprechweite vom Dorf entfernt, im Schützengraben und in den Laufgräben. Es handelt sich einfach darum, von hier aus gerade hinauf auf die Strasse von Bethune zu klettern, an der sich der Graben hinschlängelt und darunter die Zellen unserer Schutzlöcher liegen. Dann geht's noch vier oder fünfhundert Meter die Strasse abwärts nach Souchez. Aber diese ganze Gegend wird regelmässig und fürchterlich beschossen. Seit ihrem Rückzug schicken die Deutschen mächtige Geschosse hinüber, die von Zeit zu Zeit unsere unterirdische Behausung donnernd erschüttern; dabei sieht man bald hier, bald dort schwarze Erde und Schutt über die Böschung hoch aufspritzen und senkrechte Rauchsäulen turmhoch aufsteigen. Warum sie Souchez beschiessen, weiss man nicht; denn kein Mensch, kein Haus steht mehr im Dorf, das erobert und wieder erobert wurde, nachdem man es sich gegenseitig hartnäckig immer wieder entrissen hatte.

      Heute morgen allerdings hüllt uns ein dichter Nebel ein; unter dem Schutze dieses grossen Schleiers, den der Himmel auf die Erde wirft, könnte man es wagen . . . Jedenfalls wird man bestimmt nicht gesehen werden. Der undurchsichtige Nebel verschleiert die Fernsicht für die Instrumente, die irgendwo dort oben in der Nebelwatte eingewickelt sind, und der Nebeldunst bildet eine leichte und undurchsichtige Mauer zwischen unseren Linien und dem Beobachtungsposten von Lens und Angres, wo der Feind auf der Lauer liegt.

      – Abgemacht! sag ich zu Poterloo.

      Adjutant Barthe, den wir einweihten, nickte mit

      dem Kopfe und senkte die Lider zum Zeichen, dass er die Augen zudrücken wolle.

      Es war das erstemal, dass ich tags über dieses Gelände ging. Wir hatten sie immer nur von weitem gesehn, diese schreckliche Strasse, die wir oft in der Dunkelheit und unterm Sausen der Granaten sprungweise überschritten hatten, oder auf der wir hin- und hergelaufen waren.

      – Nun, kommst du, alter Knabe?

      Kaum aber halten wir im Nebel, der seine Baumwollfäden über die Strasse zerrupfte, ein paar Schritte gemacht, da blieb Poterloo mitten auf des Strasse stehn und riss seinen roten, halboffenen Mund und seine horizontblauen Augen auf.

      – O je, o je, o je! . . . murmelte er.

      Und als ich mich nach ihm umschaute, deutete er auf die Strasse und sagte kopfschüttelnd:

      – Das wär's also. Du lieber Gott, wie die aussieht! . . . Hier grad kenn ich mich so gut aus, dass ich es ganz genau sehe, wie's war, wenn ich die Augen zumache, und ich brauch gar nicht weiter nachzudenken. Das Wiedersehn aber ist schrecklich. So schön war die Strasse, mit lauter Bäumen auf beiden Seiten . . . Und jetzt, wie sieht sie aus? Da schau nur mal einer her: wie so 'n langes, verrecktes Zeug, traurig, traurig . . . Guck mal her, die beiden Gräben rechts und links, der ganzen Länge nach aufgerissen, das aufgewühlte Pflaster mit Löchern drin und die ausgerissenen Bäume, durchgesägt, brandicht, zu Scheiterhaufen zerhackt, überall hingeschmissen, mit Kugellöchern drin, da guck mal her, wie 'n Sieb sieht das aus! – Herrgott! kannst dir nicht vorstellen, wie die Strasse entstellt ist!

      Dann schreitet er vorwärts und sperrt bei jedem Schritt mit schrecklichem Erstaunen die Augen auf.

      Die Strasse sieht in der Tat furchtbar aus, nachdem sich auf beiden Seiten anderthalb Jahre lang zwei Armeen geduckt, dran festgeklammert und ihr von hüben und drüben die entsetzlichsten Schläge versetzt hatten. Sie ist eine grosse Bahn der Wirrnis, auf der nur Kugeln einherjagen. Granaten haben sie gefurcht; sie ist aufgerissen und mit Ackererde bespritzt, zerwühlt und umgestochen bis auf die Knochen. Sie ist wie ein vermaledeiter Steg, farblos, alt und zerschunden, schaurig und grossartig anzuschaun.

      – Wenn du sie früher gesehen hättest, sagt Poterloo, wie sauber und glatt war sie damals! Alle Bäume standen aufrecht, es fehlte kein Blatt und keine Farbe; wie Schmetterlinge schimmerten sie, und immer ging gerade jemand vorbei, der einem guten Tag wünschte: ein altes Frauchen, die zwischen zwei Körben wackelte, oder sonst Leute, die auf einem Wagen sassen und laut miteinander sprachen, im gütigen Wind mit aufgeblasenen Blusen. Ach, war das ein glückliches Dasein früher!

      Er geht an den Rand jenes dunstigen Flusses, der über das Strassenbett fliesst, bis zur aufgeworfenen Brustwehr. Er bückt sich und bleibt vor verschwommenen Erdhaufen stehen, auf denen man Kreuze entdeckt: es sind Gräber, die in gewissen Abständen in die Nebelmauer eingelassen sind, wie Kreuzstationen in einer Kirche.

      Ich rufe ihn. Wir kommen niemals hin, wenn wir kriechen wie 'ne Prozession. Los!

      Wir kommen an eine Geländesenkung, ich zuerst und dann Poterloo, der mit wirrem und schwerem Kopfe vergebens mit den Dingen Blicke zu tauschen versucht. Dort senkt sich die Strasse und verschwindet nach Norden in einer Geländefalte.

      An dieser geschützten Stelle herrscht ein wenig Verkehr.

      Auf der verschwommenen, schmutzigen und kranken Erde, wo Gras in schwarzer Schmiere versumpft, liegen Tote nebeneinander. Sie werden nachts dorthin gebracht, wenn man die Schützen graben und die Ebene säubert. Dort warten sie, die einen schon lange, darauf, nachts in die Kirchhöfe hinter die Front gebracht zu werden.

      Wir treten leise an sie heran. Sie liegen dicht aneinander; ein jeder zeigt noch, mit den Beinen oder den Armen, die eigentümliche Gebärde seines erstarrten Todeskampfes. Manche haben halbverweste Gesichter, brandige, gelbe Haut mit schwarzen Punkten. Mehrere haben ein vollständig verkohltes, teeriges Gesicht, geschwollene und ungeheure Lippen. Aufgedunsene Negergesichter. Zwischen zwei Leichen hervor starrt, diesem oder jenem angehörend, ein durchhackter Handknöchel, an dem ein Faserknäuel hängt.

      Andre wieder sind nur noch unförmige, beschmutzte Larven, aus denen unerkennbares Rüstzeug oder Knochenfetzen ragen. Etwas weiter weg liegt ein so schrecklich zugerichteter Leichnam, dass man ihn an zwei Pfählen in ein Drahtnetz legen musste, um ihn unterwegs, beim Tragen, nicht zu verlieren. So haben sie ihn, wie einen Ballen, in der metallenen Hängematte herübergetragen und hier niedergelegt; dran ist kein Unten und kein Oben mehr zu unterscheiden; aus dem unförmigen Haufen ist nur eine klaffende Hosentasche erkennbar, aus der ein Insekt herauskriecht und wieder hineinschlüpft.

      Um die Toten flattern Briefe, die aus ihren Kleidern oder ihren Patronentaschen geflogen sind, als man den Leichnam niederlegte. Auf einem dieser schneeweissen Papierfetzen, die im Wind umherflattern und die der Kot beschmiert, lese ich, leise darübergeneigt, diesen Satz: »Lieber Henri, wie schön das Wetter zu deinem Geburtstage ist! . . .« Der Soldat liegt auf dem Bauch; von einer Hüfte zur andern klafft eine tiefe Furche; sein Kopf liegt halb nach hinten gedreht; man sieht ein hohles Auge und auf der Schläfe, auf der Backe und dem Hals ist sowas wie grünes Moos gewachsen.

      Eine eklige Luft kriecht mit dem Wind um die Toten und die Schutthaufen: Zelltücher oder Kleiderfetzen verdreckten Stoffes, durch das trockene Blut steif geworden oder durch Geschossbrand verkohlt, hart, erdig und schon verfault; darauf krabbelt und wühlt eine lebende Schicht. Man hält den Geruch kaum aus. Wir schauen uns kopfnickend an und wagen es nicht, laut zuzugestehn, dass es hier übel riecht. Und doch entfernen wir uns nur langsamen Schrittes.

      Dann sahen wir im Nebeldunst Männer auftauchen. Sie waren vornübergebeugt und die Last, die sie trugen, kettete sie aneinander. Es sind Träger von der Landwehr, die einen frischen Leichnam herbringen. Keuchend schreiten sie vorwärts mit ihren alten, abgezehrten Köpfen und schwitzen; die Anstrengung verzerrt ihre Gesichter zu Fratzen.

      Zu zweit einen Leichnam im Kot durch die Gräben tragen, ist eine fast übermenschliche Aufgabe.

      Sie legen den Toten ab; er trägt noch eine frische Uniform.

      – Noch nicht lange, stand er noch aufrecht, meint einer der Träger. Grad vor zwei Stunden ist ihm die Kugel in den Kopf gefahren,


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