Dr. Norden (ab 600) Staffel 1 – Arztroman. Patricia Vandenberg
»Ich habe nicht die Absicht zu heiraten.«
»Das denkt man, und dann kommt doch der richtige Partner, ganz plötzlich und unerwartet.«
»Meine Großmutter wird mir immer wichtiger sein«, erklärte sie.
Diese Antwort wollte ihm nicht so ganz gefallen, und er wußte auch warum. Für ihn war der unerwartete Augenblick schon gekommen. Michelle weckte verschüttete Gefühle in ihm. Aber er spürte auch, daß das, was sie sagte, ihren innersten Gefühlen entsprach.
*
Sie sahen sich nacheinander die drei Wohnungen an, die er ausgesucht hatte. Es waren hübsche Wohnungen, modern und komfortabel. Sie gefielen Michelle auch. Sie wollte aber erst noch mal mit Viktoria sprechen und sich dann vielleicht für die Wohnung entscheiden, die dem Seniorenheim am nächsten lag.
»Wo wohnen Sie?« fragte Michelle.
»Im Haus, in dem sich auch die Kanzlei befindet. Es hat sich so ergeben.«
»Wohnen Sie allein?«
Sie wollte gern etwas über ihn erfahren und wußte nicht, wie sie es anstellen sollte, als mit dieser Frage. Aber als sie sie ausgesprochen hatte, errötete sie verlegen.
»Ganz allein«, erwiderte er lächelnd, »und die Kanzlei habe ich auch erst kürzlich übernommen. Für mich ist es ein Glücksfall, daß sich die Baronin an mich gewandt hat.«
Als sie vor dem Seniorenheim hielten, weiteten sich plötzlich Michelles Augen, als sie den Mann erkannte, der an einem Auto lehnte und zu der Wohnanlage blickte.
Michelle überlegte blitzschnell, dann sah sie Marc bittend an.
»Könnten Sie sich denken, mein Freund zu sein, Marc?« fragte sie.
»Nichts lieber als das«, erwiderte er leicht verwirrt.
»Dann macht es Ihnen auch nichts aus, wenn ich du sage und so tue, als stünden wir uns sehr nahe? – Ich erkläre das später«, fügte sie hastig hinzu.
Jetzt hatte Denis Lebrun zu ihr herübergeschaut und sie erkannt.
Nach der Devise ›Frecheit siegt‹ kam er ein paar Schritte auf sie zu.
»Hallo, Michelle, du siehst, ich habe dich gefunden. Ich gebe so schnell nicht auf.«
»Und was versprichst du dir davon?« fragte Michelle eisig. »Ist dein Interesse an mir nach einer so langen Zeit nicht merkwürdig? Würdest du Monsieur Lebrun bitte sagen, daß er sich umsonst bemüht, Marc?«
Marc reagierte schnell.
»Belästigen Sie meine Verlobte nicht!« sagte er eisig. »Dr. Clementis mein Name, Rechtsanwalt. Damit Sie wissen, mit wem Sie es zu tun haben. Nun rate ich Ihnen, schnellstens wieder zu verschwinden.«
»Ich wollte Michelle nur erklären, warum ich damals so schnell weggehen mußte. Sie soll erfahren, daß d’Aubert der Grund war. Es tut mir leid, Michelle. Ich dachte, es wäre besser für dich.«
»Es war besser so, wie immer es auch gewesen sein mag. Komm, Marc, es lohnt nicht, unsere Zeit mit ihm zu vergeuden.«
*
»Was meinst du zu der Geschichte?« fragte Marc.
»Daß etwas Wahres daran sein könnte. Damals könnte Claude daran interessiert gewesen sein, uns auseinanderzubringen. Jetzt hat er ihn möglicherweise wieder auf mich angesetzt, weil meine Großmutter für Claude interessant geworden ist. Wir müssen sie auf jeden Fall vor ihm beschützen. Danke, daß Sie mir geholfen haben, Marc.«
»Können wir nicht beim Du bleiben? Es muß ja nicht gleich eine Verlobung besiegelt werden, aber eine Freundschaft sollte doch möglich sein?«
»Was wird Großmama sagen, daß wir uns duzen?«
»Es könnte ihr recht sein, Michelle. Es ist ihr Wunsch, daß ich mich um dich und deine Angelegenheiten kümmere. Wir sollten ihr auch reinen Wein einschenken. Sie mag deine Ehrlichkeit, und es ist auch besser, wenn sie auf alle Eventualitäten vorbereitet ist.«
So wurde das abendliche Zusammensein auf eine besondere Weise stimmungsvoll.
Viktoria schien es anfangs gar nicht aufzufallen, daß Michelle und Marc einen vertrauten Umgangston pflegten. Sie war mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt.
Erst nach dem Hauptgericht, das man als exzellent bezeichnen mußte, sagte sie, was sie auf dem Herzen hatte.
»Es rief vorhin ein Mann an, der nach dir fragte, Michelle«, begann sie zögernd. »Ich wollte es nicht gleich erwähnen, um die Stimmung nicht zu stören.«
»Es soll uns wirklich nicht stören, Großmama. Ich weiß schon, wer das gewesen ist. Wir trafen Denis Lebrun, als wir kamen.«
»Ja, den Namen nannte er. Er war sehr höflich, ich war nur erstaunt, daß er so redete, als würdest du mit seinem Kommen rechnen.«
»Das paßt zu ihm. Wir haben ihm eine Abfuhr erteilt, die er nicht vergessen wird. Marc war so freundlich, sich als mein Verlobter auszugeben.«
Viktoria war erstaunt, dann lächelte sie. »Sehr geistesgegenwärtig«, bemerkte sie anerkennend.
»Ich hatte dir doch erzählt, daß ich schon eine ernüchternde Erfahrung gemacht habe, Großmama. Das war Lebrun. Immerhin sagte er vorhin etwas, was mir zu denken gibt. Es soll Claude d’Aubert gewesen sein, der die Beziehung beendet sehen wollte.«
»Aus welchem Grunde?« fragte Viktoria.
»Das weiß ich nicht. Vielleicht erfahre ich es von Mama, denn es kann durchaus sein, daß Claude Lebrun jetzt auf mich angesetzt hat, weil die Baronin Giebingerode für ihn interessant ist. Alles, was mit Geld und einem klangvollen Namen zu tun hat, ist für Claude interessant, und es ist besser, du erfährst, daß man sich sehr vor ihm in acht nehmen muß, denn er hat eine sehr charmante und überzeugende Art, sich beliebt zu machen.«
»Dir liegt die Art von Marc Clementis mehr«, sagte Viktoria schmunzelnd.
»Marc ist ein Gentleman«, stellte Michelle fest.
»Das ist auch meine Meinung, und mir gefällt es, daß ihr euch gut versteht. Es ist auch wirklich besser, wenn wir keinerlei Geheimnisse voreinander haben. Es ist immer gut, gewarnt zu sein, als blind in eine Falle zu tappen. Aber es kann doch sein, daß es diesem Lebrun nur um dich geht.«
»Dann nur, weil du meine Großmutter bist. Aber wer hat ihn darauf gebracht? Es wußen nur ein paar Leute, und von denen hat er es nicht. Aber Mama hat ihm gesagt, wo er mich findet. Ich fürchte, ich verliere auch jedes Vertrauen zu ihr.«
»Nicht vorschnell urteilen oder gar verurteilen, Michelle«, sagte Viktoria. »Wir sollten alles ganz langsam an uns herankommen lassen, wir haben Zeit, und ich bin wieder stark genug, mit Herausforderungen fertig zu werden. Ich habe euch ja zur Seite.«
Sie reichte Marc eine Hand und Michelle die andere. Ein zuversichtliches Lächeln lag auf ihrem Gesicht.
*
Madeleine war in München eingetroffen. Das Wetter zeigte sich von seiner besten Seite. Während des Fluges hatte sie den Entschluß gefaßt, sich doch erst bei der Baronin anzumelden. Es war besser, das Risiko einzugehen, unerwünscht zu sein, als Zeit zu vertrödeln. Auf jeden Fall wollte sie eine Aussprache mit Michelle herbeiführen.
Der Gedanke, daß zwischen ihr und Michelle alle Brücken abgebrochen werden könnten, war ihr doch unerträglich, andererseits wollte sie es nicht dulden, daß Claude die Baronin unter Druck setzte. Sie ahnte, daß er rücksichtslos vorgehen würde. Sie hatte in der letzten Zeit Erkenntnisse gewonnen, die ihr nicht gefielen.
Es waren bittere Erkenntnisse.
Madeleine trank im Restaurant erst einen Kaffee, um genau zu überlegen, was sie am Telefon sagen würde. Sie war von einer inneren Unruhe getrieben, die sie erst recht nervös machte. Es ging genauso zu wie in Paris, Sprachen schwirrten durcheinander.