Dr. Laurin Staffel 3 – Arztroman. Patricia Vandenberg
Irene kam.« Nun geriet sie ins Grübeln.
»Und was war dann?« fragte Dr. Laurin.
»Ja, ich muß alles genau überlegen. Dieter war wieder nach Berlin gekommen, und er sagte, daß er nun bald eine günstige Wohnung für uns bekommen könnte. Irene war auch da. Sie wohnte mit ihm im Hotel. Sie wollten nun auch bald heiraten, aber sie sagte mir, daß ihre Mutter Theater machen würde, wenn sie nicht in München leben würden. Es gab auch Differenzen zwischen Dieter und Irene, weil er sich weigerte, mit seiner Schwiegermutter in ein Haus zu ziehen. Ach, es passierte so schrecklich viel in dieser Zeit. Mir ging es nicht so gut, weil doch das Baby unterwegs war, und manchmal zweifelte ich wirklich, daß Horst es allein schaffen würde, obgleich er immer sagte, daß sie sehr zufrieden mit ihm wären in der Bank und daß er es bestimmt zum Prokuristen bringen würde. Er hatte so wenig Selbstvertrauen.
Eines Abends sagte er mir, daß er noch einmal fortgehen würde. Er wäre mit Dieter verabredet. Es sollte bald eine Überraschung für mich geben. Er war so gut gelaunt wie schon lange nicht mehr. Eigentlich hatte er nämlich Zahnschmerzen gehabt, aber die schien er vergessen zu haben. Wenn alles klappe, wären seine Zahnschmerzen auch vorbei, sagte er.
Ich wachte auf, als er heimkam. Es war weit nach Mitternacht, und er machte einen sehr bedrückten Eindruck. Er hätte Dieter nicht angetroffen, sagte er, und er hätte nicht noch länger warten wollen, weil sein Zahn so höllisch weh tat. Er nahm ein paar Tabletten und schlief dann auch ein.
Am nächsten Morgen ging er pünktlich in die Bank, aber er kam schon nach zwei Stunden zurück, völlig verstört und mit einer arg geschwollenen Backe. Er packte einen kleinen Koffer und sagte, er müsse in die Klinik fahren, weil ihm der Kiefer aufgemeißelt werden müsse. Was immer ich auch hören würde, er hätte damit nichts zu tun. Ich dachte damals einfach, daß er von den Schmerzen durchgedreht sei. Zahnschmerzen sind doch fürchterlich.«
»Das kann man wohl sagen«, warf Dr. Laurin ein.
»Ich habe Horst seit diesen Tagen nicht mehr gesehen. Ich erfuhr von dem Banküberfall und daß man Horst in Verdacht hätte. Dann kam Irene zu mir und bat mich, von Berlin fortzugehen, damit ich nicht belästigt würde. Sie war sehr besorgt wegen des Kindes und meinte, alles würde sich herausstellen. Dieter würde alles tun, um Horsts Unschuld zu beweisen, auch wenn er die Verabredung in jener Nacht nicht eingehalten hätte. Ich wußte wirklich nicht mehr, was ich tat. Ich fuhr nach Österreich zu einer Adresse, die Irene mir besorgt hatte, und ich wartete auf Nachricht von Horst.
Irene ließ mich wissen, daß er jetzt im Ausland sei. Seine Mutter habe das von ihm verlangt, und
sie hätte auch Rechtsanwälte beauftragt, die ihn verteidigen sollten.
»Aber er war doch noch gar nicht angeklagt«, bemerkte Dr. Laurin.
»Aber man betrachtete ihn als Verbrecher«, sagte Emilia Geßner stöhnend.
»Wie lange waren Sie in Österreich?«
»Bis vor vier Tagen. Irene hatte mir geschrieben, daß ich zu ihr kommen solle, wenn es soweit sei. Sie meinte wenn das Kind sich anmelden würde. Am gleichen Tag bekam ich ein Päckchen mit dem Geld. Es war in Innsbruck abgeschickt, und ich dachte, es käme von Horst. Ich kann nicht glauben, daß er zu einer solchen Tat fähig ist, aber so langsam werde ich es nun wohl glauben müssen.«
Nun strömten die Tränen wieder über ihr Gesicht.
Dr. Laurin ließ sie weinen, aber er streichelte beruhigend ihre Hände.
»Niemand wird Ihnen etwas tun, solange Sie hier sind, Frau Geßner«, versprach er.
»Was kann mir das Leben noch bedeuten ohne meinen Mann? Mein Kind hat keinen Vater, der sich mit mir freut. Wenn ich nicht an Horsts Schuldlosigkeit glauben kann, ist alles zu Ende.«
»Dann glauben Sie fest daran«, sagte Dr. Laurin tröstend.
Emilia Geßner sah ihn verwirrt an.
»Ja«, betonte Dr. Laurin, »glauben Sie an seine Schuldlosigkeit, wenn Sie ihn lieben. Sie lieben ihn doch noch immer?«
»Ich würde ihn auch lieben, wenn er schuldig wäre«, flüsterte sie. »Niemals hat er sich das selbst ausgedacht. Ich könnte mir nur vorstellen, daß er jemandem beweisen wollte, daß er Mut hat.«
Es standen noch immer Fragen offen. Dr. Laurin wollte soviel wie nur möglich herausbringen, damit die Beamten Emilia Geßner nicht selbst fragen mußten.
»Können Sie sich erklären, warum Sie Ihre Schwägerin nicht antrafen, da sie doch mit Ihrem Kommen rechnete?«
Emilia zuckte die Schultern. »Ich weiß nicht mehr, was ich denken soll. Wenn ich doch mit Horst sprechen könnte.«
»Sie haben gar keinen Anhaltspunkt, wo er sein könnte?«
»Nein«, erwiderte sie verzweifelt. »Ab und zu bekam ich eine Karte, einmal aus dem Elsaß, dann aus der Schweiz, immer das gleiche.
›Tausend Grüße, Hilfe.‹
Aber es war seine Schrift. Seit Wochen hörte ich nichts mehr.«
Wenn man ihn nun als lästigen Mitwisser aus dem Wege geräumt hat? überlegte Dr. Laurin. Hanna hatte recht, diese junge Frau war ein bedauernswertes Geschöpf.
»Er muß doch wissen, daß er mir vertrauen kann, mehr als jedem anderen«, sagte sie noch. »Ich kann doch jetzt wieder arbeiten, wo das Baby da ist. Ich werde auf ihn warten, solange es auch dauert. Aber diese schreckliche Ungewißheit kann ich bald nicht mehr ertragen.«
»Dann werden wir eben einiges dazu tun müssen, daß diese Ungewißheit beseitigt wird, Frau Geßner. Haben Sie Vertrauen. Und jetzt denken Sie wieder an Ihr Kindchen.«
*
In der Klinik ging der Betrieb weiter, als lasteten nicht wieder Probleme auf Dr. Laurin. Verspätet machte er seine Visite, war freundlich, aufmerksam und konzentriert wie immer.
In Hanna Bluhmes Büro hatte sich wieder Kriminalkommissar Thal eingefunden. Das Tonbandgerät war dorthin gebracht worden.
»Dr. Laurin hat Ihnen Wichtiges mitzuteilen«, sagte Hanna rasch.
»Und Sie?« fragte er anzüglich. »Wissen Sie, von wem Sie das Geld haben?«
Sie nickte verlegen. »Dr. Laurin wird Ihnen alles sagen«, bemerkte sie.
Er begann eine harmlose Unterhaltung. »Die Prof.-Kayser-Klinik erfreut sich eines ausgezeichneten Rufes«, stellte er fest. »Inspektor Stoll ist mit einer Krankenschwester verheiratet, die hier früher angestellt war, wie ich hörte.«
»Laura, meine Vorgängerin«, nickte Hanna. »Sie hat dann das Tabea-Heim geleitet.«
»Ganz richtig. Eine nette Frau. Hier gibt es anscheinend nur nette Schwestern.« Er sah blinzelnd zu Hanna, und sie errötete.
»Dr. Laurin legt großen Wert auf höfliche Angestellte«, erwiderte sie mit leichtem Spott.
»Ich kann mir vorstellen, daß er großen Eindruck auf die Weiblichkeit macht.«
»Er ist glücklich verheiratet«, bemerkte sie aggressiv.
»Es war ja nur eine Feststellung. In solch einer Klinik passiert wohl auch mancherlei.«
»Das bleibt nirgendwo aus, wo Menschen kommen und gehen. So aufregend wie bei der Polizei ist es aber nicht bei uns.«
»Wir haben ja auch nur mit sehr unangenehmen Dingen zu tun. Hier kommen Kinder zur Welt, das allein bringt Freude.«
»Haben Sie Kinder?« fragte sie.
»Leider nicht. Meine Frau ist nach kurzer Ehe tödlich verunglückt. Ich konnte mich nicht mehr dazu entscheiden, wieder zu heiraten.«
Jetzt erschien er ihr schon richtig menschlich. Der Jüngste war er auch nicht mehr.
»Haben Sie Kinder?« fragte er nun, um die Wartezeit zu verkürzen.
»Zwei, eine verheiratete