Die Seele Chinas. Richard Wilhelm
Schon begann ich an die Abenteuer zu denken, die D. Faber versprochen hatte. Ein breiter Sandstreif leuchtete durch die Nacht. Es war einer der nordchinesischen Flüsse, die im Sommer mehr oder weniger trocken liegen und nur in der Regenzeit ihr breites Bett mit Wasser füllen. Die Pferde suchten sich die schmalen Wege heraus, die durch Sand und Geröll gebahnt waren, und weiter ging es in die Nacht hinein. Immer fremder und dunkler reckten sich am Horizont die Felsen, immer seltsamer bogen sich die Äste. Steile Malsteine tauchten an der Seite des Weges auf. Es waren Ehrenzeichen für treue Witwen und pietätvolle Töchter. Die wildverschlungenen Drachen, von denen die Steintafeln gekrönt waren, hoben sich fantastisch von der letzten Helle des rasch dunkelnden Himmels ab. Schließlich begann auch der Diener unsicher zu werden. Doch die Pferde trabten ruhig durch den Sternenschein voran. Das Geräusch des Tages war verklungen, nur die Grillen und Heimchen schrillten noch durch die Stille. Die Nacht in China ist nicht eine einfache Abwesenheit des Lichts. Sie ist etwas Wesenhaftes besonderer Art. Alles Leben hat sich verkrochen hinter Mauern und Tore. Die Sterne glühen groß und fremd. Seltsame Schatten huschen durch die Luft, bald zirpende Fledermäuse, bald unhörbare Eulen. Die vielen Grabhügel auf den Feldern drängen sich wirr durcheinander, unheimlich streichen Füchse und Iltisse durch das Gras und gehen ihren gespenstischen Zielen nach. Jetzt ist die Stunde, wo das Irrlicht hervorkommt und das Gespensterfeuer über dem Boden schwebt und um die Hügel der Gräber streicht. Um diese Stunde ist man gern zu Haus. Gar mancher grausige Geist geht um und zieht seine magischen Kreise. Mit leiser Stimme sprach der Diener von Sagen und Geschichten, die man sich erzählte von Räubern und Nachtmahren. Schließlich fürchtete er sich fast ein wenig.
Da ging es wie im Märchen. Endlich schimmerte ein Lichtchen durch die Bäume. Wir trieben die müden Pferde an und ritten darauf zu. Wir hatten es gerade richtig getroffen. Es war die Zollstation K’out’apu an der Grenze des deutschen Schutzgebietes, eine Station des chinesischen Seezolls, aber von Beamten deutscher Nationalität besetzt, wie ja der ganze chinesische Seezoll merkwürdigerweise von Europäern in chinesischem Dienst besorgt wird. Die Zollbeamten nahmen uns freundlich auf. Einer stellte mir sogar sein Bett mit Moskitonetz zur Verfügung, während er im Freien die Nacht zubrachte. Ich schlief fast traumlos bis in den Morgen hinein. Da brauchte ich eine geraume Zeit, bis ich mich besonnen hatte, wo ich war und wozu ich hier war. Das ganze Abenteuer kam mir plötzlich so albern vor. Der Gedanke, wieder ein Pferd zu besteigen, schien mir absurd. Mühsam, mit gespreizten Beinen, bewegte ich mich vom Fleck. Die Zollwächter ließen ein kräftiges Frühstück aufwarten und erkundigten sich teilnahmsvoll nach meinem Befinden. Sie verbargen ihre Heiterkeit und zeigten nur Güte, legten auch die Heimkehr nahe. Aber nun konnte ich nicht mehr zurück. Ich dankte für die Gastfreundschaft, biss die Zähne zusammen und schwang mich auf mein Ross, das ich zu möglichster Eile antrieb. Nach einer schmerzlichen Stunde begann ich mich im Sattel wohler zu fühlen, und unvermerkt hatte ich auf diese Weise reiten gelernt.
Im frischen Morgen kamen nun die Ausläufer des Laoschan näher an die Straße heran. Der Verkehr mit Schubkarren und Markteseln erwachte und bald erblickten wir die Mauerzinnen der Kreisstadt Tsimo, zu deren Markung früher das deutsche Pachtgebiet zum größten Teil gehört hatte. Mauern, Tore und Stadtgräben sind das Wahrzeichen aller chinesischen Landstädte. Sie sind bis auf den heutigen Tag keineswegs überflüssig, sondern leisten in Zeiten, da Diebe und Räuber das Land beunruhigen, gar oft sehr nützliche Dienste. Vor der Stadt Tsimo ist das sandige Bett eines Flusses. Diesseits des Flusses liegt eine Vorstadt, in der sich Herbergen für die Reisenden befinden. Wir stiegen in einer dieser Herbergen ab. Die Pferde wurden abgesattelt und bekamen im Hof ihr Futter vorgeschüttet. Ich wurde in den Mittelraum geführt und bekam zum Empfang eine Tasse Tee vorgesetzt. Man darf bei den chinesischen Landherbergen auch nicht den leisesten Gedanken an ein Hotel aufkommen lassen. Die Räume sind schwarz geraucht; primitive Tische und Stühle und im Innenraum ein hölzernes Brettergestell, auf dem man sein Bettzeug ausbreiten kann, wenn man welches mitgenommen hat, bilden das gesamte Mobiliar. Eine rauchende Bohnenöllampe, die an pompejanische Formen erinnert, steht in einer Wandnische. Die Wände sind beschrieben und bemalt von früheren Wandergästen. Oft klebt auch ein altes chinesisches Heiligenbild in einer Ecke, vor dem ein frommer Reisender seine Gebete verrichten kann. Mein Diener war verschwunden. Bald aber prasselte in der Ecke des Hofes ein Feuer auf, und stolz brachte er ein gesottenes Huhn, drei gekochte Eier und etwas Kohlgemüse herein. So wurde ein sehr frugales Mittagsmahl gehalten – mit chinesischen Essstäbchen, da ich keinerlei Reisebesteck mitgenommen hatte.
Nachmittags sah ich mir die Stadt an. Durch das dunkle Stadttor ging es eine Straße entlang, auf der in großer Zahl steinerne Ehrenbogen standen. Die Häuser der Vornehmen hatten zwei hohe rote Flaggenmaste vor dem Eingang und geheimnisvoll dehnte sich Hof hinter Hof, aus denen Blumen und blühende Bäume hervornickten. Es war gerade Markttag, wie er alle fünf Tage abgehalten zu werden pflegt. Ein starkes Menschengewühl in den Straßen, beladene Esel, quietschende Schubkarren, Menschen mit Tragstangen, ein Rudel Schweine, alles drängte sich friedlich voran. Dann wieder kam ein zweirädriger Reisekarren mit rundem Plandach dazwischen. Aber alles wickelte sich ab ganz ohne Polizei: In aller Ruhe, unter gegenseitiger Geduld und mit gelegentlichen Witzworten. Diese glatte Abwicklung des Verkehrs mitten im größten Gewühl ist eines der Zeichen für die Höhe der chinesischen Kultur, die dem Neuling auffallen. Es gibt so gut wie keine Verbote. Man darf hier beinahe alles, und doch geht alles in Ordnung und Ruhe.
Natürlich fiel ich als Fremder auf, denn Fremde gehörten zu den Seltenheiten in diesen Gegenden, die nur von einem alten Missionar besucht wurden, der sich über Einbruch in seine Rechte beklagte, als eine andere Mission 200 Kilometer von seinem Wohnort entfernt sich niederlassen wollte. Aber trotz der allgemeinen Neugier und trotz der keineswegs fremdenfreundlichen Stimmung nach der Besetzung von Tsingtau wurde ich nicht im Geringsten belästigt. Man kann es ruhig aussprechen, dass in jenen Zeiten ein Europäer im innersten China ungestörter sich bewegen konnte als ein Chinese in einer deutschen Mittelstadt.
Von dem Versuch, den Kreismandarin zu besuchen, sah ich glücklicherweise wieder ab, als mir gemeldet wurde, dass er krank sei. Derselbe Mandarin hat später auch einer militärischen Expedition aus Tsingtau, die über verschiedene Streitfragen mit ihm verhandeln wollte, nicht nur das Tor seines Namens (Amtsgebäudes), sondern selbst die Stadttore vor der Nase zuschließen lassen und wich nur der Gewalt, so dass ich mich nicht beklagen konnte.
Den Abend verbrachte ich in meiner Herberge, wo sich eine Menge Kinder um mich versammelten, mit denen ich spielte und denen ich allerlei Figuren aus Papier ausschnitt. Hinter den Kindern saßen und hockten die Alten. Sie rauchten behaglich ihre Pfeifchen und fragten dies und jenes über die Verhältnisse in dem fernen Land, aus dem ich kam. Es gibt wenige Länder, in denen die Kinder so ungehemmt und natürlich sich entwickeln dürfen und wo sie mit soviel Rücksicht und Liebe behandelt werden wie in China. Es spricht für diese freie Erziehungsmethode nicht wenig, dass aus all den ungebundenen Kindern doch recht brauchbare und anständige Menschen werden. Durch die Kinder hatte ich bald Fühlung bekommen mit den Alten und trotz mangelhafter Sprachkenntnisse unterhielten wir uns sehr angenehm.
Die Nacht war unruhig. Erst störten unzählige Moskitos, die wie ein scharfer Trompetenton die Luft erfüllten. Als sie zu den Fenstern und Türen hinausgeräuchert waren, blieben noch genug andere Insekten üblerer Art, die sich nicht wegräuchern ließen. Im Hof stampften die Pferde und die sentimentalen Esel machten mit langem Geschrei, in dem der ganze Jammer der Welt zu liegen schien, ihren Liebesgefühlen Luft. Und immer, wenn einer anfing, fiel die ganze Gesellschaft mit ihren Klagen ein. Schließlich band man ihnen Steine an die Schwänze, denn der Esel hebt stets den Schwanz, wenn er in seinen Jammer ausbricht. Da wurde es etwas ruhiger. Aber dann kamen die Hunde, die sich aus allen Straßen zubellten und schließlich die Hähne, die mit Geschrei den Morgen begrüßten. Aber auch dieser Lärm der Nacht in einer chinesischen Herberge hat etwas romantisch Eindrucksvolles, bis schließlich die Ketten rasseln und in Eimern Wasser aus dem runden Brunnenloch geschöpft wird. Der Tag graute und überall brachen die Reisenden auf, nachdem sie noch ein leichtes Frühstück sich bereitet hatten.
Der Rückweg verlief rasch und ohne Zwischenfälle. Nur D. Faber war verwundert, dass mir nichts Ernstliches passiert war.
Kurz darauf machte ich in Tsingtau meine erste grundlegende Entdeckung, die von so überraschender Einfachheit war, dass man sich wundern muss, dass so wenig Europäer