Die Umrundung des Nordpols. Arved Fuchs

Die Umrundung des Nordpols - Arved Fuchs


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ein Eiertanz. Jeder weiß, dass uns keine Schuld trifft, aber wollen wir wirklich eine Schuldzuweisung treffen? Er sei hier, um den Fall zu klären, teilt er Henryk mit. Er könne jetzt die Sache weiterverfolgen, was – so lässt er durch die Blume wissen – uns sicherlich bei der Bewältigung weiterer behördlicher Auflagen für die Befahrung des Nördlichen Seeweges nicht sehr dienlich sein würde. Oder wir würden die Schuld auf uns nehmen und damit alle anderen von jedweden Versäumnissen freisprechen. Das sei doch die viel bessere Lösung! Mit 2.000 Rubeln, etwa 70 Euro, sind wir dabei! Den schwarzen Peter übernehmen wir, dafür ist man uns hoffentlich gewogen, das Verfahren wird eingestellt und wir sind nun endlich offiziell eingereist. So einfach geht das!

      Abends trifft Slava ein. Er hat von dem Zwischenfall gehört und ist außer sich. Er reagiert in solchen Situationen noch viel empfindlicher als jeder andere von uns. Gerade weil er Russe ist und eben weil er selbst alle Papiere bearbeitet und eingereicht hat, trifft es seinen Stolz und seinen Gerechtigkeitssinn an einer empfindlichen Stelle.

      •

      Unsere Geduld soll auf eine harte Probe gestellt werden. Ursprünglich hatte ich drei bis vier Tage in Murmansk eingeplant – es werden insgesamt zwölf. Die Besuche im Büro der Murmansk Shipping Company gehören schon bald zur täglichen Routine wie das morgendliche Zähneputzen.

      Um Punkt 11 Uhr – vorher ist es nie genehm – sitzen Slava und ich im Büro von Sergeij Deyneka und diskutieren. Eigentlich ist nur Slava derjenige der redet, ich sitze mit stoischer Miene daneben und verstehe kein Wort. Gelegentlich darf ich einige Schiffspapiere aus meinem Aktenkoffer hervorkramen und auf den Tisch legen, bei anderer Gelegenheit mit todernster Miene den Schiffsstempel sowie meine Unterschrift unter Formulare setzen, deren Inhalt ich sowieso nicht lesen kann – ich fühle mich ausgeliefert. Wäre Slava nicht, dem ich hundertprozentig vertraue – ich wüsste nicht, was ich täte. Gegen 14 Uhr enden in der Regel die Konsultationen, um am späten Nachmittag an Bord fortgeführt zu werden.

      Der aus der Gründerzeit stammende Bahnhof von Murmansk hebt sich angenehm von den tristen Plattenbauten ab. Über der Kuppel des Gebäudes prangt noch der alte Sowjetstern.

      Bei all dem geht es primär um den technischen Zustand beziehungsweise um die Eignung der DAGMAR AAEN für den Nördlichen Seeweg. Alle Verweise auf die Icesail-Expedition einschließlich der neunmonatigen Überwinterung im Eis des Jenisseis oder gar die Durchfahrung der Nordwestpassage hinterlassen keinen Eindruck. Der Nördliche Seeweg – so lässt man uns wissen – sei nun einmal etwas Besonderes. Hinsichtlich der bürokratischen Hürden vermag ich diesbezüglich nicht zu widersprechen.

      Dann kommt ein Inspektor aus Moskau, den ich von der Hauptverwaltung des Nördlichen Seeweges aus Moskau kenne, angereist, und tatsächlich erhalten wir den behördlichen Segen. Endlich! Die DAGMAR AAEN ist für den Nördlichen Seeweg geeignet.

      Doch die erste Euphorie wird schnell gedämpft. Glaubten wir tatsächlich, wir hätten den behördlichen Spießroutenlauf beendet? Keineswegs. Jetzt geht es um die Frage des Eislotsen. Laut Vorschrift muss jedes Schiff – egal wie groß oder klein – einen staatlichen Eislotsen an Bord nehmen. Das Problem: Woher nehmen? Wir erkundigen uns, tatsächlich gibt es einige interessierte Lotsen, von denen aber keiner abkömmlich ist.

      Was Nun? Slava wirft sich in die Brust: Schließlich sei er Russe, habe jahrelang auf Arktis- wie auch Antarktisstationen Dienst getan, kenne den Nördlichen Seeweg wie kaum ein Zweiter – also sei er doch schließlich der geeignete Lotse für die DAGMAR AAEN. Was keiner zu hoffen wagte – die Verwaltung in Moskau lässt sich darauf ein! Obwohl die Entscheidung offenbar intern kritisiert und von unterschiedlicher Seite völlig gegensätzlich bewertet wird, bleibt es dabei: Slava ist unser Lotse – etwas Besseres hätte uns nicht passieren können.

      •

      Zwischen unseren Besuchen bei der Murmansk Shipping Company, die weiterhin an der Tagesordnung sind, müssen wir mit der obersten Hafenbehörde sprechen, die für sich wiederum in Anspruch nimmt, die kompetenteste und wichtigste Instanz in Sachen Nördlicher Seeweg überhaupt zu sein. Ob wir denn wüssten, das dort viel Eis liegt und ob wir denn auch warme Sachen dabei hätten, fragt einer der Uniformierten mit einem Seitenblick auf Henryks Füße, die unbestrumpft in Sandalen stecken. In Murmansk ist eben Sommer! Alle Papiere müssen wieder vorgeholt und langatmig begutachtet werden, Stempel werden auf Stempelkissen gedrückt, angehaucht und mit wichtiger Miene auf ein x-beliebiges Dokument gepresst. Mir hebt es bisweilen die Schädeldecke, Henryk, der das sieht, meint nur: »Gut, dass du kein Russisch verstehst, dann wäre es um deine Contenance geschehen.« Ich glaube ihm gern, auch so bin ich an der Grenze meiner Geduld angelangt.

      Das gleiche Theater erwartet uns beim Zoll, nur dass der sich im Freihafen befindet und dorthin keiner Zugang hat. Slava muss sich für 20 Rubel an anderer Stelle einen Passierschein besorgen und darf damit samt Schiffspapieren in den Freihafen – mir bleibt dieser Gang glücklicherweise erspart, mir hat man keinen Passierschein ausgestellt. Ein weiterer Besuch bei jener Hafenbehörde, die für den Teil des Hafens zuständig ist, in dem wir liegen, diverse Telefonate mit anderen Behörden – dann wieder die Mitteilung, dass Slava nun doch nicht Lotse sein könne, kurz darauf die Richtigstellung, dass er dieses gewichtige Amt sehr wohl ausfüllen kann – so vergeht Tag auf Tag. Wir geben an Bord einen Empfang für alle beteiligten Inspektoren. Die Stimmung ist gut, es fließt reichlich Wodka. Ein Vertrag mit der Murmansk Shipping Company steht noch aus. Im Büro von Sergeij ist ein junger Anwalt, der mit uns den Vertrag unterzeichnen soll. Der Vertrag ist zweisprachig in Englisch und Russisch abgefasst. Es gibt Übersetzungsfehler, inhaltliche zudem, der Vertrag wird immer wieder geändert, und wenn er dann endlich unterzeichnet ist, wird er in einer oberen Etage der Murmansk Shipping Company wieder verworfen. Als wir endlich auf die Reise gehen, ist die endgültige Version immer noch nicht gefunden, aber alles ist tausendmal unterschrieben und gestempelt – keiner blickt mehr durch, am allerwenigsten offenbar der smarte Anwalt, dem seine Chefs ständig in den Rücken fallen.

      Am 27. Juli um 09:30 Uhr kommen endlich Zoll und Grenzschutz an Bord, um uns auszuklarieren. Um 10 Uhr kommt der Hafenlotse dazu und um 10:45 werfen wir die Leinen los. Ich kann es kaum glauben, aber offenbar dürfen wir endlich – nach zwölf Tagen Bürokratenmarathon – los. Wieder geht es vorbei an Atom U-Booten der Marke KURSK, an der verbotenen Stadt, an Schiffswracks und einer ansonsten harmlosen nordischen Fjordlandschaft. Endlich beginnt die Reise durch die Nordostpassage.

      Als Abschied geben wir eine Bordparty, bei der die offiziellen Vertreter der Murmansk Shipping Company sowie der Verwaltung aus Moskau Gäste sind. Es gibt reichlich zu essen und – wie immer in Russland – reichlich Vodka.

      Im Zentrum von Murmansk machen wir an einer Pier fest. Hinter uns liegt die VAGABOND des Franzosen Eric Brossier. Sie warten schon seit fünf Wochen auf eine Genehmigung.

      Um uns die Wartezeit zu vertreiben, angeln wir mit den Offizieren Dorsche, während Elise sie schlachtet und ausnimmt.

      Sturm

      und Eis

      KARASTRASSE

      •

      70° 28‘ N; 58° 13‘ E

      05

      Zwischen dem Wort und der Tat liegt das Eis.

      Die Wolkenbank, die sich drohend hinter uns aufbaut, verheißt nicht Gutes. Vorsichtshalber binden wir ein Reff ins Großsegel, fieren das Groß ein wenig auf und behalten die Front, die hinter uns aufzieht, im Auge. Als die Bö uns wenig später trifft, sind wir dennoch von der Heftigkeit überrascht. Der Windmesser zeigt 35 Knoten, gleich drauf 40 Knoten – wir haben viel zu viel Segel oben. »All hands«, brüllt jemand in den Niedergang runter, die DAGMAR AAEN holt weit über, der Großbaum taucht ins Wasser und pflügt gewaltige Fontänen auf. Ich luve an, um in den Wind zu gehen, rufe Katja, Achim und Markus zu,


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