Dr. Norden Jubiläumsbox 5 – Arztroman. Patricia Vandenberg
das Fenster auf ihren schlafenden Mann. Mit dem Kopfverband, verbunden mit Kabeln und Schläuchen, wirkte er viel kleiner und verletzlicher als sonst. Ihr Herz zog sich zusammen vor Angst. »Selbst wenn ich sie aus eigener Tasche bezahlen muss.«
Auch Teresas Nerven waren zum Zerreißen gespannt.
»So viele Reisen kannst du in deinem Leben nicht mehr verkaufen, dass du Papa wirklich helfen kannst!«, entfuhr es ihr bitter.
Charlotte bekam diese Anspielung in den falschen Hals und lächelte sarkastisch.
»Das würde wahrhaft anders aussehen, wenn uns unsere einzige Tochter nicht im Stich gelassen hätte.«
Teresa zögerte. Ihr lag ein weiterer bissiger Kommentar auf den Lippen, den sie sich aber wohlweislich verkniff. Auf keinen Fall wollte sie einen Streit vom Zaun brechen. Nicht in dieser Situation. Und schon gar nicht in der Klinik.
»Ich fahr in den Laden und kümmere mich um die Kundschaft«, bot sie daher friedfertig an.
Einen Moment lang war Charlotte überrascht. Dann lächelte sie und nickte.
»Danke!« Mehr sagte sie nicht.
*
»Anneka, was ist denn mit dir los?« Als die Schwester ihres Freundes mit verweinten Augen in der Bäckerei Bärwald auftauchte, legte Tatjana Bohde sofort das Geschirrtuch zur Seite, mit dem sie die noch warmen Kaffeetassen aus der Spülmaschine abtrocknete. Zum Glück war das kleine Café im Augenblick leer. Tatjana eilte um den Tresen herum und legte fürsorglich den Arm um die schmalen Schultern der jungen Frau. »Du siehst ja aus wie ein Gespenst.«
»Vielen Dank für die Blumen«, lächelte Anneka schief und wischte sich mit dem Jackenärmel über die feuchten Wangen. »Aber wahrscheinlich hast du sogar recht. Genauso fühl ich mich nämlich auch.« Vom Weinen waren ihre Augen feuerrot, und die Wimperntusche war verschmiert.
Tatjana hingegen sah wie immer makellos aus. Ihre bestechend blauen Augen strahlten mit ihrer Haut um die Wette, sodass sich Anneka noch mehr fühlte wie ein hässliches Entlein.
»Das war wohl nichts mit dem neuen Oberteil und Leons faszinierten Blicken. Er hat es noch nicht mal bemerkt«, erklärte sie bitter und atmete den verführerischen Kaffeeduft ein, der durch die kleine Bäckerei zog.
Tatjana bemerkte es und deutete hinüber ins Café.
»Setz dich schon mal da hinten an den kleinen Tisch. Ich hol uns schnell Kaffee und ein paar Leckereien. Und dann erzählst du mir alles.«
Folgsam setzte sich Anneka auf die Bank und sah ihrer älteren Freundin dabei zu, wie sie mit schlafwandlerischer Sicherheit die Kaffeemaschine bediente und schließlich an den Tisch trat.Sie lächelte dankbar, als Tatjana ihr die Tasse in die Hand drückte, einen Teller mit gemischtem Gebäck auf den Tisch stellte und neben Anneka auf die Bank rutschte. Das heiße Getränk weckte wenigstens ein paar von Annekas Lebensgeistern wieder.
»Nicht nur, dass Leon eineinhalb Stunden zu spät gekommen ist. Er geht nächste Woche auch noch nach Australien«, platzte sie gleich darauf mit den entsetzlichen Neuigkeiten heraus.
Ein Glück, dass die Vorräte an Tränen inzwischen verbraucht waren. So konnte sie wenigstens halbwegs flüssig erzählen, was in dem Café vorgefallen war.
Tatjana wirkte entrüstet, aber nicht ganz so, wie Anneka es insgeheim erwartet hatte. Die empörten Schimpftiraden blieben aus.
»Na ja, du wusstest von Anfang an, dass ihm sein Sport wahnsinnig wichtig ist«, gab sie, vernünftig wie sie war, zu bedenken. »So hast du ihn kennen und lieben gelernt. Ohne sein Tennis wäre er nicht der Mann, der er ist.«
»Ja, schon!«, gestand Anneka kleinlaut und zupfte eine Rosine aus einem Rosinenbrötchen. »Die Leidenschaft für seinen Sport hat ihn schon zu was Besonderem gemacht. Aber ich dachte irgendwie, dass er nach der Bandscheibengeschichte ein neues Leben anfangen will.«
»Ach, Süße!«, seufzte Tatjana. Sie drückte Anneka an sich. »Ich weiß, es ist kein Trost. Aber vielleicht solltest du es nicht zu schwer nehmen. Manchmal tut es einer Beziehung auch ganz gut, wenn man sich nicht so oft sieht.«
Über diese Bemerkung musste Anneka dann doch lachen, auch wenn es ein freudloses Lachen war.
»Das mag ja gut und schön sein, wenn man schon länger zusammen ist wie Danny und du. Aber Leon und ich haben uns ja erst vor ein paar Wochen nach Jahren wiedergetroffen. Es wäre wirklich schön, ihn ein bisschen besser kennenzulernen«, stellte sie fest. Sie zupfte eine weitere Rosine aus dem süßen Gebäck und knabberte unglücklich daran.
»Da hast du natürlich auch wieder recht«, stimmte Tatjana dieser Ansicht zu und biss nachdenklich in eine Rosinenschnecke. Eine Weile kaute sie stumm. Dann huschte ein Leuchten über ihr Gesicht. »Vielleicht hat er einfach noch nicht gelernt, was es heißt, eine Bindung einzugehen. Schließlich ist er schon seit vielen Jahren von zu Hause weg und hatte kein Familienleben mehr. So was prägt natürlich.«
»Was meinst du damit?« Anneka legte den Kopf schief und sah Tatjana forschend an.
»Ich meine, dass du ihn mal ein bisschen aus der Reserve locken solltest. Vielleicht geht ihm dann auf, was ihm fehlen würde, wenn du plötzlich nicht mehr an seiner Seite bist. Geh mal nicht mehr bei jedem Telefonat ran. Steh nicht immer zur Verfügung, wenn er zufällig Zeit und Lust hat. Bleibe eine eigenständige Persönlichkeit«, machte sie einen vernünftigen Vorschlag.
Zu ihrer eigenen Überraschung musste Anneka plötzlich lachen.
»Dann habe ich ja instinktiv genau das Richtige getan«, grinste sie, schon wieder halbwegs getröstet, und erzählte Tatjana von ihrer kleinen Urlaubsschwindelei. »Ich war so sauer auf ihn, dass ich dachte, ich muss ihm zeigen, dass ich nicht auf ihn angewiesen bin.«
»Ich bin stolz auf dich!«, lobte Tatjana ihre jugendliche Freundin. »Und ich wette, dass das Ergebnis nicht lange auf sich war…" Ein dumpfes Klingeln unterbrach sie, und Anneka begann, in ihrer Tasche nach dem Mobiltelefon zu kramen. Als sie es herauszog, war der Anrufer auf die Mailbox umgeleitet worden. »Lass mich raten! Das war Leon.«
»Stimmt!«, frohlockte Anneka. »Dabei hat er vorhin noch behauptet, dass sein Akku leer ist.« Einen Moment lang war sie versucht, ihn zurückzurufen.
Doch sie tat es nicht. Stattdessen steckte sie tapfer das Handy zurück in die Tasche und brach gemeinsam mit Tatjana in belustigtes Gelächter aus.
*
Charlotte Beer verbrachte ein paar Stunden am Bett ihres Mannes, bis sie einsah, dass ihr Freund Daniel Norden recht hatte. Bernhard schlief tief und fest, und sie konnte nichts anderes für ihn tun als dazusitzen und seine Hand zu streicheln.
»Wollen Sie wirklich nicht heimgehen, Frau Beer?«, erkundigte sich die Intensivschwester Lisa, als sie sah, wie Charlotte zum wiederholten Male gähnte. »Ihr Mann ist gut versorgt bei uns. Und Sie werden Ihre Kraft noch brauchen für die Zeit, wenn er erst wieder zu Hause ist«, wiederholte sie, ohne es zu ahnen, Daniel Nordens Worte.
Charlotte sah ihren Mann fragend an. Dann nickte sie.
»Wahrscheinlich haben Sie recht. Vielleicht sollte ich wirklich nach Hause gehen und mich ein bisschen ausruhen.« Leise seufzend stand sie auf und zögerte noch einen Moment. Dann beugte sie sich übers Bett und küsste Bernhard auf die blasse, eingefallene Wange, ehe sie sich auf den Weg ins Reisebüromachte.
Dort wurde sie schon von ihrer Tochter Teresa erwartet. Die junge Tourismusmanagerin saß am Schreibtisch ihres Vaters und hob den Kopf, als Charlotte eintrat.
»Und? Wie geht es Papa?«, fragte sie.
Erschöpft ging Charlotte hinüber zur Anrichte, wo stets eine Kanne mit Kaffee und eine Karaffe mit frischem Wasser bereit stand. Bevor sie antwortete, schenkte sie sich ein Glas Wasser ein und trank in großen Schlucken. Als sie den ersten Durst gestillt hatte, drehte sie sich zu ihrer Tochter um.
»Bernhard kann ja nichts sagen. Er sieht aus, als würde er schlafen. Wenn die ganzen Kabel und Schläuche nicht wären