Einsichten - Ausblicke. Albert Hofmann
Albert Hofmann
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Verlegt durch:
Nachtschatten Verlag AG
Kronengasse 11
CH-4502 Solothurn
© 2003 Albert Hofmann
© 2003 Nachtschatten Verlag AG
Umschlaggestaltung & Layout: Trigger.ch, Zürich - Berlin
Umschlagfoto: Rolf Verres
Herstellung: Druckerei Steinmeier GmbH, Nördlingen
Printed in Germany
ISBN 978-3-03788-157-6
eISBN 978-3-03788-225-2
Neuauflage 2021
Erweiterte und überarbeitete Neuauflage des 1986 im Sphinx Verlag Basel erschienenen Titels.
Alle Rechte der Verbreitung durch Funk, Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger jeder Art, elektronische Medien und auszugsweiser Nachdruck sind vorbehalten.
Meinen-Enkeln
Inhalt
Das Sender-Empfänger Modell der Wirklichkeit
Geborgenheit im naturwissenschaftlich-philosophischen Weltbild
Vorwort
Die Erde ist eine Kugel, die sich um sich selbst drehend im Weltraum um die Sonne bewegt. Das wusste jedermann, doch dann konnte man es sehen, als vor wenigen Jahren die Weltraumforschung photographische Aufnahmen lieferte: Der Planet Erde, eine blaue Kugel, frei im All schwebend.
Seither rufe ich mir gerne vor dem Einschlafen dieses Bild vor das innere Auge. Ich stelle mir vor, wie ich, hier im Bett liegend, dort auf der Oberfläche der Kugel mitreise, auf der sich so viel zugetragen hat, seit sie auf der ihr vor Urzeiten vorbestimmten Bahn gleichmässig dahinzieht.
Erst nach Milliarden Sonnenumkreisungen, nachdem die Erdkugel sich begrünt und nach weiteren vielen Hundert Millionen Jahren, als sich auf ihr tierisches Leben entwickelt hatte, erschien auf ihr das Geschöpf, das die Welt und sich selbst bewusst erlebt. Als eines dieser bewusstseinsbegabten Geschöpfe schaue ich jetzt mit dem Auge der Kamera vom Weltraum her auf die blaue Kugel, auf der sich das Drama der Menschheit abspielt. Was für Völkerschicksale, welch persönliche Schauspiele sind dort schon über die Bühne gegangen, die der Vorhang der Zeit vom heutigen Zuschauer trennt! Doch im Zeitlosen, an dem wir alle durch unser Bewusstsein Anteil haben, leben die Bilder fort: Märchenhafte Kulturen, die vor Jahrtausenden in China blühten, die Welt der griechischen und römischen Antike, der Alexanderzug, das Aztekenreich, die Kreuzzüge, die Zeit der Gotik und der Renaissance, zwei Weltkriege …
Von allen diesen auf der Erdoberfläche wechselnden Szenerien war aus der kosmischen Perspektive nichts zu erkennen, und auch die Menschen der darin auf- und abtretenden Generationen waren nicht zu sehen. Es war immer das gleiche Bild, das sich auch heute dem Blick aus dem Weltraum bietet - die im Sonnenlicht blau leuchtende Kugel, die unbekümmert um Menschenzeit und Menschheitsschicksal ruhig im All dahinschwebt.
Während dieses Bild mit der Deutlichkeit der photographischen Aufnahme vor meinem inneren Auge steht, weiss ich, dass ich mich in diesem Augenblick dort auf der Schattenseite der Kugeloberfläche befinde, hier in meinem Haus auf der Jurawiese, im Schlafzimmer, dessen Fenster offensteht, durch das mit Heugeruch vermischte frische Nachtluft einströmt. Auf der Kugel verschwindet meine individuelle Existenz unter den Menschenmilliarden, die dort gegenwärtig für einen kosmischen Augenblick die Oberfläche bevölkern. Hier hingegen bin ich das Zentrum der Welt, meiner Welt, die sich vom Zimmer aus rundum über die Länder der Erde zum Mond, zur Sonne, bis in die Unendlichkeit des von Sternen funkelnden Alls ausdehnt.
Was ist nun wahr, was ist wirklich, befinde ich mich hier oder dort? Darf man diese Frage, zu der die Antwort so selbstverständlich scheint, überhaupt stellen? Ich glaube ja, denn im Grunde ist nichts selbstverständlich. Dass uns heute so vieles, fast alles selbstverständlich scheint, ist einer der folgenreichsten Fehler in unserer Geisteshaltung. An Selbstverständlichkeit könnte die Welt zugrundegehen.
Die Antwort auf obige Frage, ich befinde mich hier in meinem Zimmer und dort auf der blauen Kugel, ist nicht selbstverständlich. Sie stellt eine höhere Wahrheit dar, die nur jemand begreift, der weiss, dass die Erde, auf der er sich befindet, eine Kugel ist. Für den primitiven Menschen ist nur wahr und wirklich, was er unmittelbar mit seinen Sinnen wahrnehmen kann, im vorliegenden Fall, dass er hier ist, auf der Erde, die flach ist, über die sich die Himmelskuppel wölbt. Er kennt nur einen Teil der Wahrheit.
Was sich am Beispiel dieser nächtlichen Meditation zeigt, nämlich wie die Wirklichkeit je nach dem Standpunkt des Betrachters ganz verschiedene Ansichten darbietet, die sich aber nicht ausschliessen, sondern zu einer umfassenderen Wahrheit ergänzen, möchte ich in den folgenden Essays darlegen. Sie enthalten Einsichten in das Wesen unserer Alltagswirklichkeit, die mir aus eigenen Lebenserfahrungen zugewachsen sind. Es sind also ganz persönliche Betrachtungen zu einem zentralen Problem der Philosophie, die unausweichlich ins Religiöse führen.
Tatsächlich ist jeder sein eigener Philosoph, denn jeder Mensch erlebt die Welt gemäss seiner Einzigartigkeit auf einmalige Weise und macht sich von ihr dementsprechend sein eigenes persönliches Bild. Jeder muss in seiner besonderen Wirklichkeit zurechtkommen.
Dass wir alle schon als Philosophen geboren werden, zeigt sich an den Fragen, die Kinder stellen: „Papi, wo hört die Welt auf? - Wann hat der liebe Gott die Welt gemacht? - Warum müssen alle Menschen sterben?“- und ähnliches. Es sind Fragen, auf die man in all den vielen philosophischen Werken noch immer keine Antwort findet, obschon es sich doch um Grundfragen unserer Existenz handelt.
Aus meiner eigenen Kindheit erinnere ich mich noch sehr genau an ein kindlich-philosophisches Gespräch, das ich als etwa Zehnjähriger mit einem Kameraden führte. Es war auf dem Weg in die Primarschule, wir trottelten gerade auf das alte Stadttor zu, als mein Gespane mich fragte: „Glaubst du noch an den lieben Gott? Ich glaube nicht mehr, dass es den gibt, seit ich gemerkt habe, dass man mich mit dem Christkind angeschwindelt hat, und dass der St. Niklaus niemand anderer war als der Onkel Fritz.“ Ich antwortete ihm, dass es mit dem lieben Gott aber anders sein müsse als mit dem Christkind und mit dem St. Niklaus, denn es gäbe doch die Welt und die Menschen, die nur der liebe Gott gemacht haben könne.
Das war mein Gottesbeweis, und er ist es bis heute geblieben.
Warum stellen Kinder so tiefgründige Fragen? - Weil ihnen die Schöpfung, die sich ihnen durch frische Sinne unmittelbar und neu erschliesst, noch nicht selbstverständlich scheint. So erscheint sie erst den Erwachsenen mit ihrem durch Gewohnheit abgestumpften Empfinden. Sie ist es aber nicht, die Kinder haben recht. Sie leben noch im Paradies, weil sie noch