Der Landdoktor Staffel 2 – Arztroman. Christine von Bergen
Miene verkündigte nichts Gutes. Sichtlich aufgeregt kam sie auf Julia zugelaufen.
Wahrscheinlich hat sie auch Ärger gehabt, dachte Julia. Der Umgang mit den Kundinnen war nicht immer leicht. Manchmal tat ihr ihre Freundin leid. Vera hatte ein gutes Herz und frisierte sogar manche Leute nur für ein »Vergelt’s Gott«.
»Setz dich«, sagte sie. »Oma holt uns gerade einen Kaffee. Du möchtest dir doch bestimmt deinen Frust von der Seele reden, oder?«, erkundigte sie sich mit verschmitztem Blick.
Vera schluckte, sah sich um. »Ist Leon da?«
»Nein. Er ist abgereist. Herr Pfeifer übrigens auch.« Julia erzählte ihr, warum Ludger Pfeifer bei ihnen Gast gewesen war.
Ihre Freundin zupfte an ihrer Unterlippe. Etwas in Veras Blick machte sie misstrauisch.
»Was ist passiert?«, fragte sie.
Dabei breitete sich ein flaues Gefühl in ihrem Magen aus, eine unheilvolle Ahnung, dass es bei diesem Gespräch nicht um Veras Probleme, sondern um ihre eigenen gehen könnte.
»Hier kommt der Kaffee«, rief Hilde bereits aus dem Flur. »Und ein Stück Kuchen habe ich euch dazugegeben«, fügte sie zwinkernd hinzu, als sie in der Haustür erschien.
Vera und Oma Winter wechselten ein paar Worte, dann ließ die ältere Frau die Jüngeren allein.
»Was ist passiert?«, wiederholte Julia mit Nachdruck in der Stimme, nachdem ihre Großmutter die Haustür hinter sich geschlossen hatte.
Vera räusperte sich, öffnete ihre Umhängetasche und zog ein Blatt Papier heraus.
»Hier, lies mal.«
Bevor Julia zu lesen beginnen konnte, fiel ihr das Foto im Text ins Auge. Der Mann auf dem Bild lächelte in die Kamera. Er sah sehr attraktiv aus. Schwarzes Haar, schwarze Augen, ein sinnlicher Mund, der so wunderschön küssen konnte. Leon.
Julia sah ihre Freundin an, während sie innerlich zu zittern begann. »Was ist das?«
»Lies erst mal«, sagte Vera sanft.
Sie las. Der Internetartikel handelte davon, dass der Reiseveranstalter Brandt und Söhne an die Börse gehen wollte. Aufsichtsräte würden Gideon Schubert, der bisherige Eigentümer des Unternehmens, werden, sowie dessen älterer Sohn Anselm. Leon Schubert, der jüngere Sohn, sollte sich um das Auslandsgeschäft kümmern.
»Was bedeutet das?« Julia ließ das Blatt langsam in den Schoß sinken und sah Vera voller Unverständnis an.
»Diese Information habe ich heute Morgen zufällig im Internet gefunden. Sie ist brandaktuell. Das siehst du am Datum. Was das bedeutet?« Vera lachte bitter auf. »Das bedeutet, dass der schöne Leon ein gewiefter Kerl ist. Ich bin sicher, dass er nur hier war, um euer Haus zu testen.«
»Spinnst du?«, wies Julia ihre Vermutung erbost zurück. »Leon hat doch nicht mit Ludger Pfeifer gemeinsame Sache gemacht. Er …« Sie verstummte.
Leon war ein paar Stunden vor der Pfeife abgereist. Mochte Vera etwa recht haben? Nein, niemals.
»Kannten die beiden sich?«, fragte ihre Freundin.
Sie schüttelte den Kopf. »Leon mochte Herrn Pfeifer nicht.«
»Kannten Sie sich?«, wiederholte Vera mit eindringlichem Blick.
»Ich habe zumindest nichts davon bemerkt.«
Vera schwieg. Julia fasste sich ein Herz und las noch einmal den Computerausdruck. Dann noch einmal und noch einmal. Dabei hielt sie sich den Kopf.
Unfertige Gedanken jagten einander. Vielfältige Gefühle ballten sich in ihrem Innern zusammen. In all dem Chaos schälten sich zwei Fragen heraus: Sollte Leon ihre Pension testen und hatte er nur mit ihr gespielt?
Sie glaubte, sich in einem bösen Traum zu befinden. Ihr wurde heiß und kalt. Mehrmals schüttelte sie den Kopf, öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch es kam nur ein heiseres Krächzen heraus. Mit allem hätte sie gerechnet, aber nicht damit. Leon zog ihr durch seinen Betrug, durch seine Hinterhältigkeit den Boden unter den Füßen weg.
Vera griff nach ihrer Hand und streichelte sie. »Erinnerst du dich noch daran, dass Leon gesagt hat, ich hätte ihm eure Pension empfohlen? Niemand hat sie ihm empfohlen. Er hatte einen konkreten Auftrag, sich hier einzumieten.«
Ja, sie erinnerte sich. Als sie ihn auf Vera angesprochen hatte, war er ihr ausgewichen, hatte plötzlich nicht mehr gewusst, wer ihm die Empfehlung gegeben hatte. Da hätte sie doch schon misstrauisch werden müssen. Trotzdem. Konnte nicht doch alles nur ein kompliziertes Missverständnis sein?
»Aber warum hat er mir hier geholfen?«, fragte sie mit einer Stimme, die ihre aufsteigenden Tränen ankündigte. »Er hat Sachen repariert, zeigte sich über das dreiste Verhalten von Ludger Pfeifer empört, seine Schwärmereien, wie schön es hier wäre, seine Gefühle mir gegenüber? War das denn alles nur gespielt?«
Ihre Freundin blieb stumm, strich ihr nur immer wieder über die Hand.
»Ich will ihm ja nicht Unrecht tun, aber …« Sie zeigte auf den Internetausdruck. »Gibt dieser Text dir nicht die Antworten? Warum ist er heute in aller Früh abgereist? Warum hat er dich nicht geweckt und sich von dir verabschiedet? Wahrscheinlich hat ihn sein schlechtes Gewissen eingeholt.«
Ja, so konnte es sein, musste Julia ihrer Freundin recht geben.
Erinnerungen stürzten auf sie ein, Erinnerungen an Leons so zärtliche Hände auf ihrem Gesicht, sein Lächeln, seinen Atem auf ihren Lippen, der Ausdruck von Liebe in seinen Augen …
»Ach, Julia, so sind die Männer«, sagte Vera in nachdenklichem Ton, während ihr Blick sich nach innen richtete. »Für einen Flirt zu gebrauchen, aber wenn man mehr möchte, wird es schon schwierig. Ich traue keinem männlichen Wesen mehr.«
Aber ich, hätte Julia ihr am liebsten widersprochen, doch ihr fehlte die Kraft. Außerdem, hatte sie nicht gerade erfahren, das sie dem Falschen vertraut hatte?
»Fassen wir einmal zusammen«, fuhr Vera energischer fort. »Die Aktion, eure Pension einigen Reiseveranstaltern anzubieten, war eine blöde Idee von uns. Wir hatten einen viel zu engen Gesichtswinkel. Du und ich finden es hier wunderschön. Wir fühlen uns hier zu Hause. Mit einem liebenden Auge werden Mängel schnell zu Stärken. Und das ist uns passiert. Wir müssen jetzt sachlich überlegen, wie es mit dir und deiner Oma finanziell weitergehen soll. Die Geschichte mit Leon Schubert kannst du zu den Akten legen. Der wird sich nicht mehr bei dir melden. Widme dich lieber deiner Zukunft, als diesem Typen nachzutrauern.«
*
»Vielleicht ist alles nur ein Zufall«, sagte Oma Winter. Dabei klang sie jedoch nicht sehr überzeugt. »Leon hat auf der Rückreise aus Italien hier Halt gemacht, und sein Vater hat uns Herrn Pfeifer ins Haus geschickt. Ich kann einfach nicht glauben, dass die beiden gemeinsame Sache gemacht haben sollen.«
Julia zog das große Tuch enger um ihre Schultern. Obwohl die Abendsonne noch ihre warmen Strahlen hinunter auf die Pension Winter warf, fror sie.
»Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll«, sagte sie leise. »Mein Kopf ist wie eine Achterbahn.«
»Ruf Leon an«, sagte Hilde in festem Ton. »Jetzt, sofort. Du hast doch bestimmt seine Handynummer.«
»Sie steht auf seinem Anmeldeformular.« Sie reckte ihr Kinn. »Aber genau das werde ich nicht tun. Er muss sich melden.«
»Kind, jetzt sei doch nicht so stur«, begehrte ihre Großmutter auf. »Du strafst dich mit deinem Starrsinn nur selbst. Ein Ende mit Schrecken ist besser als …«
»Ich kenne das Sprichwort, Oma«, unterbrach Julia sie. »Aber das Ende ist bereits da. Fest steht, dass Leon mich hintergangen hat. Ich habe ihm doch bei unserem Ausflug erzählt, dass ich mich mit Reiseveranstaltern in Verbindung gesetzt habe. Und auch, mit welchen. Spätestens da hätte er mir doch erzählen müssen, dass sein Vater der Eigentümer von Brandt und Söhne ist. Was aber hat er getan? Geschwiegen.