Moderne Geister: Literarische Bildnisse aus dem neunzehnten Jahrhundert. Georg Brandes

Moderne Geister: Literarische Bildnisse aus dem neunzehnten Jahrhundert - Georg Brandes


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ist, interessirt Heyse an ihm. Die höchste Pflicht ist für ihn, die Natur zu ehren und ihrer Stimme zu folgen, die wahre Sünde ist Sünde gegen die Natur. Man lasse sie gewähren und walten!

      Es gibt darum nicht viele Schriftsteller, die so ausgeprägte Deterministen wie Heyse sind. An den freien Willen im überlieferten Sinne des Wortes glaubt er nicht, und steht augenscheinlich ganz ebenso skeptisch, wie sein Edwin oder Felix, Kant's kategorischem Imperativ gegenüber.[2] Aber glaubt er auch nicht an angeborene Ideen, so glaubt er doch an den angeborenen Instinct, und dieser Instinct ist ihm heilig. Er hat in seinen Novellen geschildert, wie unglücklich sich die Seele fühlt, wenn dieser Instinct entweder gestört oder unsicher ward. In der Novelle „Kenne Dich selbst“ ist die Intelligenz, in der „Reise nach dem Glück“ die Moral der Friedensstörer.

      In der ersteren Novelle hat Heyse die Qual dargestellt, welche aus einem zu frühen oder absichtlichen Eingreifen in das instinctive Leben der Seele hervorgeht. „Jene schöne Dumpfheit der Jugend, jene träumerische unbewusste Fülle, die reine Genusskraft der noch unerschöpften Sinne gingen dem jungen Franz über seinem vorzeitigen Ringen nach Selbstgewissheit verloren“.[3] Er schildert hier die Schlaflosigkeit des Geistes, die ebenso gefährlich für die Gesundheit der Seele ist, wie wirkliche Schlaflosigkeit für das Wohl des Körpers, und zeigt, wie der Reflexionskranke „jenen heimlichen dunklen Kern verliert, welcher der Kernpunkt unserer Persönlichkeit ist“.

      In der Novelle „Die Reise nach dem Glück“ ist es die herkömmliche Moral, welche durch Verdrängung des Instincts die Seele zersplittert hat. Ein junges Mädchen hat mit Ueberwindung ihres eigenen Herzenstriebes aus eingeprägten Sittlichkeitsrücksichten in später Nacht den Geliebten fortgewiesen und ist dadurch die unschuldige Ursache seines Todes geworden. Nun verfolgt die Erinnerung an dieses Unglück sie beständig. „Wenn Einem nicht das eigene Herz den Weg weist, läuft man immer in die Irre. Ich bin schon einmal elend geworden, weil ich nicht hören wollte, ob auch mein Herz noch so laut schrie. Jetzt will ich aufmerken, wenn es nur halblaut flüstert, und für alles Andere kein Ohr haben“. (G. W. V., 199.)

      In dem Instinct ist die ganze Natur gegenwärtig. Ist nun die innere Zersplitterung, die dort eintritt, wo der Instinct seine leitende Kraft verloren hat, für Heyse das tiefste Unglück, so besteht umgekehrt für die Charaktere, welche er mit Vorliebe schildert, das Lebensgefühl, d. h. das tiefste Glücksgefühl, in dem Genusse der Ganzheit und Harmonie ihrer Naturen. Heyse ist natürlicherweise nicht geneigt, die Selbstreflexion ohne Weiteres als ein für das gesunde Lebensgefühl feindliches Princip anzusehen. Es scheint ungefähr seine eigene Ansicht zu sein, welche der Kranke in „Kenne Dich selbst“ mit den Worten ausspricht: ebenso angenehm, wie es ihm sei, in der Nacht aufzuwachen, sich zu besinnen und zu wissen, dass er noch weiter schlafen könne, ebenso herrlich scheine es ihm, sich aus traumhaften Glückszuständen aufzuwecken, sich zu sammeln, zu reflectiren und dann sich gleichsam auf die andere Seite zu legen und weiter zu geniessen. Wenigstens hat er in seinem Roman „Kinder der Welt“ Balder, den am idealsten angelegten Charakter des Buches, diesen letzten Gedanken noch gewichtvoller ausführen lassen. Schwermüthige Betrachtungen sind eben ausgesprochen worden, Betrachtungen über die Sonne, die gleichgültig über Ungerechte scheine und Gerechte und mehr Elend als Glück sehe, über die endlose, sich stets erneuernde Noth des Lebens u. s. w. Franzel, der junge socialistische Buchdrucker, hat eben entwickelt, wie der, welcher das allgemeine Loos der Menschen bedenke, am wenigsten im Stande sei zur Ruhe zu kommen, und hat in seinem Schmerz das Leben ein Unglück und eine Lüge genannt, als Balder ihm zu zeigen sucht, wie ein Leben, worin man zur Ruhe käme, überhaupt nicht mehr diesen Namen verdienen würde. Er erklärt ihm dann, worin der Lebensgenuss für ihn bestehe, nämlich darin, „Vergangenheit und Zukunft in Eins zu empfinden“. Höchst eigenthümlich hebt er hervor, dass er nicht geniessen könne, wenn er sich nicht ganz empfinde, und dass er in den stillen Augenblicken der Betrachtung alle die zerstreuten Elemente seines Wesens in einen Accord vereine. „So oft ich wollte, das heisst, so oft ich mir ein rechtes Lebensfest machen und mein bischen Dasein aus dem Grunde geniessen wollte, habe ich so zu sagen alle Lebensalter zugleich in mir erweckt, meine lachende, spielende Kindheit, wo ich noch ganz gesund war, dann das erste Aufglänzen des Denkens und der Gefühle, die ersten Jünglingsschmerzen, die Ahnung, was es um ein volles, gesundes Mannesleben sein müsste, und zugleich auch die Entsagung, die sonst nur ganz alten Menschen leicht zu werden pflegt“. Für eine solche Lebensauffassung ist das Menschenleben nicht in Augenblicke zerklüftet, die verschwinden und deren Verschwinden beklagt wird, auch nicht im Dienste sich gegenseitig widerstrebender Triebe und Gedanken zersplittert; für eine solche Fähigkeit, in jedem Augenblick Anker zu werfen, die Ganzheit und Wirklichkeit seines Wesens zu fühlen, kann das Leben nicht wie ein böser Traum zerrinnen. „Glaubst Du nicht“, sagt Balder, „dass der, welcher in jedem Moment, wenn er nur will, eine solche Fülle des Daseinsgefühls in sich erzeugen kann, es für ein leeres Wort halten muss: nicht geboren zu sein, wäre besser?“[4] Man beachte, dass es ein todtkranker Krüppel ist, welcher diese Worte spricht und noch dazu ein Krüppel, den der Dichter augenscheinlich in dem Bilde des so verschieden denkenden Leopardi's geformt hat. Die eigenthümliche Art von Genussphilosophie, die in denselben ausgesprochen wird, und die durch eine synthetische Reflexion die ganze Zeit im ewigen Jetzt sammelt, weist auf die eigene Lebensanschauung des Dichters zurück. Es ist das Lauschen der harmonisch angelegten Natur auf ihre eigenen Harmonien. Alles geben die unendlichen Götter ja ihren Lieblingen ganz, alle die unendlichen Freuden und alle die unendlichen Schmerzen ganz. Diese Lebensphilosophie nimmt selbst den Missklang des unendlichen Schmerzes in ihre innere Harmonie auf und vermag ihn für sich aufzulösen. Hier ist der Punkt, wo Heyse sich am schärfsten von Turgenjew und den andern grossen modernen Pessimisten der Poesie scheidet. Er wagt es, seinen Lieblingspersonen selbst sehr unschöne und abschreckende Vergehen beizumessen, um ihnen nach allerlei Prüfungen und Qualen den innern Frieden wiederzugeben. Der junge Baron in dem Roman „Im Paradiese“ ist ein Beispiel. Eine Sünde gegen sein besseres Ich lastet auf seinem Gewissen. Die innere Harmonie mit dem eigenen Gefühl, „auf die Alles ankommt“, ist ihm verloren gegangen. Es zeigt sich im Laufe der Erzählung, dass er sich durch jenes Vergehen noch dazu gegen seinen besten Freund vergangen. Aber durch alle Irrungen und alles Unglück, das hieraus erwächst, findet er sich wieder. Die Harmonie der Natur war nur zeitweise aufgehoben, nicht, wie er es fürchtete, heillos zerstört.

      Unmittelbar ist der Instinct die Stimme des Blutes. Daher kommt es, dass die Individuen bei Heyse tief in Stamm und Race wurzeln. Sie scheinen wie das Gesetz Mosis zu lehren, dass die Seele im Blute ist. Sie folgen der Stimme des Blutes und appelliren an sie. Die unentwickelten sind der kräftige Ausdruck eines Racentypus; die entwickelten unter ihnen kennen ihre Natur und respectiren sie; sie nehmen sie als gegeben mit dem Gefühle, dass sie sich nicht ändern lässt; sie werden ebenso durchgängig von ihrem Naturinstinct geleitet, wie die Charaktere Balzac's vom Eigennutze. Um zu verdeutlichen, was ich meine, führe ich ein paar Stellen aus den „Kindern der Welt“ an: Als Edwin in Toinette heftig verliebt ist, geht sein Bruder Balder ohne sein Wissen zu ihr, um sie zu bitten, nicht aus einer Grille oder im Leichtsinn den Bruder zurückzuweisen und sich an einen Fremden wegzuwerfen. Hierauf bekommt er die Antwort, dass sie erst jetzt erfahren und begriffen habe, woran es liege, dass sie kein Glück im Leben gewinnen könne. Sie hat das Geheimniss ihrer Herkunft entdeckt, dass nämlich ihre unglückliche Mutter nur gezwungen in die Gewalt ihres Vaters kam, und daraus erklärt sie sich's nun, dass sie, wie sie glaubt, nicht lieben kann: „Mein Freund“, sagt sie, „ich glaube, dass Sie es gut mit mir meinen, Sie und Ihr Bruder. Aber es wäre ein Verbrechen, wenn ich mir einredete, Sie könnten mir helfen, jetzt, da ich so klar Alles einsehe, von meinem Schicksal weiss, dass es mir nun einmal im Blute liegt“. (Die Worte sind im Texte gesperrt.) Dies ist für sie der letzte unwiderlegliche Beweisgrund. Und bei allen Personen des Buches tritt dieser an Aberglauben grenzende Respect vor der Natur hervor. Wie er sich bei Toinette findet, so bei ihrem Gegenpol Lea. Sie contrastiren in allen Punkten; nur in dieser einen Hinsicht stimmen sie überein. Als Lea, die Edwin's Frau geworden ist, erfahren hat, wie viel Macht die Erinnerung an Toinette noch über sein Herz besitzt, und als sie während ihrer Trauer einen Augenblick, in einem Buche Edwin's lesend, sich damit tröstet, wie gut sie Vieles von dem, was er geschrieben und was manchem anderen Weibe zu hoch sein würde, versteht, wirft sie plötzlich das Buch wieder fort, denn es fährt ihr durch den Sinn, „wie ohnmächtig alles Einverständniss


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