Ausgewählte Werke von Selma Lagerlöf. Selma Lagerlöf
den ganzen Tag vor sich, und sie lachten nur, wenn sie auf neue Hindernisse stießen.
Von Zeit zu Zeit sahen sie nach dem gegenüberliegenden Ufer hinüber. Es schien noch so weit weg, obwohl sie schon eine gute Stunde gegangen waren. Sie waren ein wenig erstaunt, daß der See so breit war. »Es ist, als wenn das Ufer vor uns wegliefe,« sagte der kleine Mads.
Hier draußen war kein Schutz gegen den Westwind. Er wurde mit jedem Augenblick heftiger und hüllte sie so fest in ihre Kleider, daß es ihnen schwer wurde, sich zu bewegen. Der starke Wind war die erste wirkliche Unannehmlichkeit, die ihnen auf der Wanderung begegnet war.
Es wunderte sie, daß der Wind so merkwürdig stark dröhnte, als habe er den Lärm aus einer großen Mühle oder einer Fabrik mitgenommen. Aber so etwas gab es ja doch nicht da draußen auf der Eisfläche.
Sie waren westlich um die große Insel Valen herumgegangen, und nun meinten sie, merken zu können, daß sie sich dem nördlichen Ufer näherten. Gleichzeitig aber wurde der Wind heftiger, und das gewaltige Bullern, das ihn begleitete, nahm so stark zu, daß sie anfingen, unruhig zu werden.
Auf einmal kam ihnen der Gedanke, daß der Lärm, den sie hörten, von Wellen kommen könne, die schäumend und brausend gegen eine Küste schlugen, aber das war ja unmöglich, da der See noch mit Eis bedeckt war.
Trotzdem blieben sie stehen und sahen sich um. Ganz draußen, nach Westen zu, bei Björnö und Göcksholmsland gewahrten sie eine weiße Mauer, die quer über den See ging. Erst glaubten sie, es sei ein Schneerand, der an einem Wege entlang laufe, aber sie begriffen bald, daß es Schaum von Wellen war, die gegen das Eis schlugen.
Als sie das sahen, gaben sie sich die Hände und fingen an zu rennen, ohne ein Wort zu sagen. Der See war nach Westen zu offen, und sie glaubten sehen zu können, daß der Schaumrand schnell nach Osten zu vorrückte. Sie wußten nicht, ob das Eis im Begriff war, überall aufzubrechen, oder was geschehen könne. Aber sie fühlten, daß sie nun in Gefahr waren.
Plötzlich schien es ihnen, als höbe sich das Eis gerade an der Stelle, wo sie liefen, als höbe es sich und sinke wieder, als habe jemand von unten dagegen gestoßen. Dann hörten sie einen dumpfen Knall im Eis, und gleich bildeten sich nach allen Seiten Risse darin. Die Kinder konnten sehen, wie sie durch die Eiskruste liefen.
Nun wurde es einen Augenblick still auf dem Eis, dann aber spürten sie wieder dasselbe Heben und Senken. Nun begannen die Risse, sich zu Spalten zu erweitern, durch die man das Wasser hervorquellen sah. Gleich darauf wurden die Spalte zu Rinnen, und die Eiskruste teilte sich in große Schollen.
»Aase,« sagte der kleine Mads. »Ich glaube, dies ist Eisbruch!«
»Ja, das ist es, kleiner Mads,« sagte Aase. »Aber wir können das Ufer noch erreichen. Laufe, so schnell du kannst.«
In der Tat hatten der Wind und die Wellen noch genug damit zu tun, das Eis von dem See zu entfernen. Die schwerste Arbeit war freilich getan, wenn erst die Eiskruste zerbrochen war, aber alle die Stücke sollten wieder geteilt und gegeneinander geworfen und zertrümmert und zerrieben und aufgelöst werden. Es war noch eine Menge hartes, festes Eis vorhanden, das große, ganze Schollen bildete.
Die größte Gefahr für die Kinder aber war, daß sie keinen Überblick über das Eis hatten. Sie vermochten nicht zu sehen, wo die Spalte so breit waren, daß sie nicht darüber hingelangen konnten. Sie wußten nicht, wo sie die großer Eisschollen finden sollten, die sie tragen konnten. Daher wankten sie aufs Geratewohl hin und her. Sie kamen weiter auf den See hinaus, statt sich dem Ufer zu nähern. Sie wußten nicht aus noch ein da draußen auf dem berstenden Eis, und sie waren so bange, daß sie schließlich stehen blieben und weinten.
Da kam eine Schar wilder Gänse in gestrecktem Flug über ihren Köpfen daher. Sie schrien laut und stark, und das Sonderbare war, daß die Kinder deutlich die Worte hörten: »Ihr müßt nach rechts gehen, nach rechts, nach rechts!«
Sie setzten sofort ihre Wanderung fort, den Rat befolgend. Aber es währte nicht lange, da standen sie wieder zögernd vor einem breiten Spalt.
Wieder hörten sie die Gänse über ihren Köpfen schreien, und aus ihrem Gegacker konnten sie einige Worte unterscheiden: »Bleibt, wo ihr seid! Bleibt, wo ihr seid! Bleibt, wo ihr seid!«
Die Kinder sprachen kein Wort miteinander über das, was sie hörten, aber sie gehorchten und standen still. Nach einer Weile glitten die Eisschollen zusammen, und sie konnten über den Spalt gelangen. Dann gaben sie sich wieder die Hände und liefen weiter.
Sie ängstigten sich nicht nur vor der Gefahr, sondern auch vor der Hilfe, die ihnen zuteil wurde.
Bald standen sie wieder still und besannen sich, aber sofort hörten sie eine Stimme von oben aus der Luft: »Geradeaus! Geradeaus! Geradeaus!« sagte die Stimme.
So ging es ungefähr eine halbe Stunde weiter, da aber hatten sie die lange Lungarsodde erreicht und konnten das Eis verlassen und an Land waten. Es war deutlich zu sehen, wie bange sie gewesen waren, denn als sie an Land gekommen waren, blieben sie nicht einmal stehen, um sich den See anzusehen, auf dem die Wellen jetzt immer gewaltsamer mit den Eisblöcken herumtummelten, sondern sie eilten nur weiter. Aber als sie eine Strecke auf die Landzunge hinaufgekommen waren, stand Aase plötzlich still. »Warte mal, kleiner Mads,« sagte sie, »ich habe etwas vergessen.
Und sie ging wieder hinab an den See. Dort begann sie in ihrem Beutel zu wühlen und zog schließlich einen kleinen Holzschuh heraus. Den stellte sie auf einen Stein, wo man ihn ganz deutlich sehen konnte, und dann kehrte sie zu Mads zurück, ohne sich noch einmal umzuwenden.
Kaum aber hatte sie dem See den Rücken gekehrt, als eine große, weiße Gans wie ein Blitz aus der Luft herunterschoß, den Holzschuh ergatterte und mit derselben Eile wieder in die Luft hinausschoß.
XXV. Die Erbteilung
Donnerstag, 28. April.
Als die Wildgänse dem Gänsemädchen Aase und dem kleinen Mads über den Hjelmarn geholfen hatten, flogen sie geradewegs gen Norden bis sie nach Vestmanland hineingelangten. Dort ließen sie sich auf einem der großen Felder im Fellingsbroer Kirchspiel nieder, um auszuruhen und zu fressen.
Niels Holgersen war auch hungrig, schaute aber vergeblich nach etwas Eßbarem aus. Während er dastand und sich nach allen Seiten umsah, entdeckte er auf dem benachbarten Felde ein Paar Männer, die pflügten. Plötzlich ließen sie die Pflüge stehen und setzten sich hin, um Frühstück zu essen. Der Junge lief hinter ihnen drein und schlich sich hinter die beiden Männer. Es war ja nicht unmöglich, daß er einige Brotkrumen oder eine Kruste finden würde, wenn sie fertig waren.
An dem Felde entlang ging ein Weg, und auf dem kam ein alter Mann gegangen. Als er die beiden Pflüger sah, blieb er stehen, kroch über den Zaun und ging zu ihnen heran. »Ich wollte auch gerade frühstücken,« sagte er, nahm seinen Ranzen ab und holte Brot und Butter heraus. »Es ist schön, daß ich nicht allein am Grabenrande zu sitzen brauche,« fuhr er fort. Und dann geriet er in Unterhaltung mit den beiden Pflügern, und sie erfuhren bald, daß er ein Grubenarbeiter aus Norberg war. Jetzt arbeitete er nicht mehr. Er war zu alt, um auf den Grubenleitern auf und nieder zu klettern, aber er wohnte noch in einem Häuschen in der Nähe der Grube. Er hatte eine Tochter in Fellingsbro verheiratet; die hatte er eben besucht, und sie wollte, daß er zu ihr ziehen sollte, aber dazu konnte er sich nicht entschließen.
»Ihr findet also, daß es hier nicht schön ist wie in Norberg?« fragten die Bauern mit einem Lächeln, denn sie wußten ja, daß Fellingsbro eines der größten und reichsten Kirchspiele in der Gegend ist.
»Wie könnte ich es wohl ertragen, in so einer Ebene zu wohnen,« sagte der Alte und machte eine abwehrende Handbewegung, als sei das etwas ganz Undenkbares. Und dann fingen sie in aller Freundschaft an, sich darüber zu streiten, wo in Vestmanland es am schönsten zu wohnen sei. Der eine von den Landleuten war in Fellingsbro geboren und er redete der Ebene das