Sportsozialarbeit. Heiko Löwenstein
im Bereich des informellen Sporttreibens (Bindel, 2008). Auch Brinkhoff erkannte schon 1998, dass die Nachfrage nach »sozial entpflichtenden Organisationsformen« wächst (Brinkhoff, 1998, S. 257). Die sportbezogene Kindheits- und Jugendforschung, gebündelt in den Deutschen Kinder- und Jugendsportberichten, schreibt dem informellen Sporttreiben nach wie vor einen hohen Stellenwert neben dem Vereinssport und der Nutzung kommerzieller Anbieter, v. a. ab dem Jugendalter, zu (Schmidt, 2015, S. 207). Laut der Shell-Jugendstudie (2015) bleibt der Anteil der Jugendlichen, die selbstorganisiert Sport treiben, mit ca. einem Drittel relativ stabil (Deutsche Shell Holding GmbH, 2015, 113f). Daten der MediKus-Studie geben an, dass 19,5 % der 9- bis 12-jährigen, 26,5 % der 13- bis 17-jährigen und 36,5 % der 18- bis 24-jährigen aktiven Sportlerinnen und Sportler ausschließlich selbstorganisiertem Sporttreiben nachgehen (Züchner, 2016, 106f). Gleichzeitig wird beobachtet, dass die Bedeutung informeller Spiel- und Bewegungsengagements besonders im Kleinkind- und Grundschulalter abgenommen hat. Restriktionen im Wohnumfeld, eine Zunahme des Autoverkehrs, der Ausbau von Ganztagsschulen, institutionalisierte Kindheiten und Veränderungen im Erziehungsverhalten sind einige der Gründe dafür (Burrmann, 2008, S. 391ff; Schmidt, 2015, S. 203f).
Welche Sportarten im informellen Sektor besondere Beachtung erfahren, wie und wo diese ausgeübt werden, steht immer in Abhängigkeit zu vorhandenen Bewegungsräumen sowie zeitlichen, materiellen und sozialen Ressourcen der Akteure und Akteurinnen. Vorwiegend im Freien und urbanen Stadtraum stattfindende, alltagstaugliche, d. h. in dem Wohnumfeld leicht zugängliche, traditionelle Sportarten wie Fußball spielen, Fahrrad fahren, Joggen oder Schwimmen sind vorrangig und werden durch Risiko-, Fun- und Trendsportarten, wie Le Parkour, Klettern, Slacklining, Skateboarding, BMX oder Inlineskating ergänzt (Baur & Burrmann, 2004, S. 19f; Schmidt, 2015, S. 207f; Züchner, 2016, S. 121). So vielfältig wie die Sportarten selbst, so sind auch die Orte, an denen selbstorganisiert Sport getrieben wird. Öffentliche Räume wie naturnahe Areale werden von Jugendlichen durch die Nutzung der Straße erweitert. Darunter fallen Fußgängerzonen, Einkaufspassagen, Parkplätze, Bürgersteige, Baunischen etc. Diese Räume fungieren als eine »Bühne der Selbstdarstellung« (Müller, 2018, S. 22), auf der die jungen Menschen nicht nur Sporttreibende, sondern gleichzeitig auch Zuschauende sein können. Dabei nicht an feste Termine gebunden zu sein und nach eigenen Regeln oder in Neuschöpfungen spielen zu können, sagt Jugendlichen zu. Grundideen klassischer Sportspiele wie Fußball werden von den Jugendlichen übernommen, an äußere Bedingungen wie Spielfeldgröße, Teilnehmendenzahl u. a. angepasst und mit eigenen Regelvariationen ergänzt (Bindel, 2017, S. 419; Brettschneider & Kleine, 2002, S. 125). Auch können Jugendliche im selbstorganisierten Sporttreiben ihr Bedürfnis nach Risiko, Spannung oder körperlichen Grenzerfahrungen in Trend- und Extremsportarten und eigenen Adaptionen befriedigen (Neumann, 2004, S. 186; Schmidt, 2015, S. 209). In diesen Situationen ist Sport gleichzeitig Kreativitätserfahrung, wobei die eigene Phantasie und der Körper zur Lösung von Problemen eingesetzt werden und die jungen Menschen sich nicht ausschließlich als Sporttreibende, sondern vielmehr als Skater, Freeclimber oder Traceur mit jeweils spezifischer Sprache, eigenen Symbolen, Handlungsmustern und Kleidungsstilen sehen (Schwier, 1998, S. 10).
Aktuelle Entwicklungen zeigen, dass Tendenzen zu einer Abkehr von spielerisch-kreativen Aktivitäten hin zu funktionalen Formen des Sporttreibens zu beobachten sind. Bindel vermutet, dass informelles Sporttreiben v. a. im jungen Erwachsenenalter vermehrt Fitnesspraktiken (Freelatics, Crossfit) mit Motiven der Körperästhetik annehmen wird. Aktuell existieren »kommerziell-informelle Sporthybride« (Bindel, 2017, S. 423f), wenn beispielsweise professionell geleitete Kurse im öffentlichen Raum (Yoga im Park, Lauftreffs, Boot-Camps) angeboten werden. Hier sieht Bindel die Gefahr, dass das Eigentliche, was den informellen Sport ausmacht – nämlich das von den Akteuren und Akteurinnen selbst Ausgehende – durch Lenkung kommerzieller Interessen verloren geht, und plädiert dafür »junge Menschen dazu zu befähigen, der Fitness-Bewegung kritisch oder zumindest wählerisch gegenüberzutreten« (ebd., S. 424). Bindel macht auch darauf aufmerksam, dass informelles Sporttreiben nicht für jeden Jugendlichen gleichermaßen zugänglich ist. Vor allem hätten diejenigen einen gelingenden Zugang, die kooperativ, kreativ, gut vernetzt und mit sportmotorischen Grundfertigkeiten ausgestattet sind. Demnach sei die informelle Sportszene kaum eine Freizeitoption für junge Menschen, denen man aus sozialpädagogischer Sicht gerne einen Zugang verschaffen würde. Anstelle von baulichen Maßnahmen wie Skateanlagen oder Outdoorfitness sollte eher auf sozialpädagogische Methoden wie Empowerment gesetzt werden, um eigenes Sporttreiben anzuregen (ebd.). Für die Sportsozialarbeit bieten sich hier wichtige Anknüpfungspunkte, z. B. im Rahmen der aufsuchenden Jugendarbeit und des Streetwork.
2.5 Kommerzieller Sport
»Der junge, attraktive Körper wird zum Ideal, um den sich eine ›Industrie‹ bemüht, die von der Kommerzialisierung des Körpers lebt und sie zugleich vorantreibt. […] Hierdurch wird ein Markt befördert, auf dem reflexives Körperwissen feilgeboten und nachgefragt wird« (Meuser, 2004, S. 201).
Kommerzieller Sport bezeichnet einen Sammelbegriff, der weder in der Wissenschaft noch in der Praxis einheitlich verwendet wird. Sportanbieter im kommerziellen Bereich erfahren in den letzten Jahren ein enormes Wachstum. Hierunter sammeln sich Fitnessstudios, gewerbliche Sportanlagen (Trampolinhäuser, Spaßbäder), private Trendsportanbieter, gewerbliche Sport- und Gesundheitsanlagen, Schulen (v. a. Tanz, Kampfsport, Reiten, Segeln) und Studios (z. B. Ballett, Yoga) sowie Personal Coaches oder Sportreiseanbieter (Schubert, 2008, S. 144ff; Heinemann, 2007, S. 120ff).
Eine Abgrenzung zu organisiertem Sport und informellem Sport ist aus den sportlichen Angeboten aufgrund ihrer Vielfalt nicht vorzunehmen. Eigenständiges Merkmal für kommerzielle Sportanbieter bildet jedoch die »spezifische Form des institutionellen Arrangements der Produktion und des Konsums von Sport als Dienstleistungsangebot« (Schubert, 2008, 143). Sind Sportvereine nicht auf Gewinnmaximierung ausgerichtet und bringt informelles Sporttreiben keine monetären Verbindlichkeiten mit sich, erfolgt die Leistungserbringung bei kommerziellen Sportanbietern in einem Tausch zwischen Kunde und Unternehmen – Geld gegen Leistung. Kommerzielle Sportanbieter verfolgen demnach erwerbs- und gewinnwirtschaftliche Ziele (ebd.).
Wie viele Menschen in Deutschland sich der Sport- und Bewegungsangebote kommerzieller Anbieter bedienen, ist derzeit nicht zu erfassen. Dies stellt auch Thieme (2015) für den Kinder- und Jugendbereich in einer Zusammenschau von empirischen Befunden zum Engagement von Kindern und Jugendliche im kommerziellen Sport fest. Zumindest für Fitnessangebote zeichnen sich jedoch Zahlen in der Studie »Der deutsche Fitnessmarkt« ab. Mit 10,61 Millionen Mitgliedschaften, 8.988 Anlagen und einem Gesamtumsatz von 5,2 Milliarden Euro erreichte die Fitnessbranche im Jahr 2017 neue Spitzenwerte. Besonderes Wachstum verzeichneten v. a. Discountfitness-Angebote und Mikrostudios. Neben der Ausbreitung von Fitnessstudios wird auch die Digitalisierung von Sport und Bewegung (Wearables, Online Fitnessstudios, Apps) in den nächsten Jahren an Wachstum gewinnen (DSSV, 2018).
Erfolgsfaktoren kommerzieller Sportanbieter sind lange Öffnungszeiten und flexible Besuchszeiten, ein differenziertes Angebotsspektrum, freie Wählbarkeit von Kursen, hochwertige Raum- und Geräteausstattung, meist gut qualifiziertes Personal sowie diverse Zusatzangebote wie z. B. eine Sauna oder eine Bar (Gugutzer, 2008, S. 93; Schubert, 2008, S. 145). Die hohe Vielfalt an sportlichen Angeboten und die schnelle Anpassung an neue Trends besetzen Angebotsnischen, die vom Vereinssport nicht oder mit Verzögerung bedient werden. So gelingt es kommerziellen Sportanbietern auch Menschen zu mobilisieren, die dem Vereinssport eher fern sind. Dennoch findet gleichzeitig eine Überschneidung statt und Vereinsmitglieder, die gleichzeitig kommerzielle Sportanbieter wahrnehmen, sind keine Seltenheit (Schubert, 2008, S. 148).
Für die Sportsozialarbeit ist zu berücksichtigen, dass kommerzielle Sportangebote wie z. B. Trampolinhäuser oder Spaßbäder v. a. durch ihren Eventcharakter eine hohe Attraktivität für Jugendliche bieten und sich fest in der jugendlichen Lebenswelt etabliert haben. Da es Aufgabe der Sportsozialarbeit ist, einen Zugang zur vielfältigen Bewegungskultur zu schaffen, sollte auch dieser Markt Berücksichtigung finden. Gleichzeitig bietet sich Gelegenheit, einen kritischen Umgang mit kommerziellen Sportangeboten anzuregen, z. B. durch das Aufbrechen von Konsumhaltungen, die kritische Reflexion von Schönheitsidealen oder die Anregung zur Eigenaktivität.