Sportsozialarbeit. Heiko Löwenstein
Der 2001 eingeführte bio-psycho-soziale Gesundheitsbegriff der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) trägt diesen Kontext- und Einflussfaktoren Rechnung und ergänzt damit das Klassifikationssystem ICD-10 der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zur medizinischen Einordnung von Krankheitsbildern (DIMDI, 2005). Gemäß der zugrundeliegenden Gesundheitsdefinition der WHO als ein »Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen« (WHO, 2014, S. 1) werden die komplexen Wechselwirkungen zwischen den gesundheitlichen Problemen und den Kontextfaktoren, also den Umwelt- und personenbezogenen Faktoren, in den Blick genommen. Eine Erweiterung des bio-psycho-sozialen Modells wurde mit dem Salutogenese-Modell Antonovskys vorgelegt, das weniger fragt, warum Menschen krank werden, sondern warum sie trotz bio-psycho-sozialer Risiken und Belastungen gesund bleiben (Laging, 2018, S. 20). Der Paradigmenwechsel von pathogenetischen Modellen hin zum salutogenetischen Konzept wurde erstmals in der Ottawa-Charta der WHO von 1986 niedergelegt.
Die folgende Grafik veranschaulicht die benannten Wechselwirkungen (
Abb. 5: Wechselwirkung zwischen den Komponenten der ICF (aus: DIMDI – Deutsches Institut für medizinische Dokumentation und Information (Hg.) (2005). Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit, S. 23)
Soziale Arbeit versteht sich im Gesundheitswesen komplementär, aber teils auch widerstreitend zur naturwissenschaftlich-medizinischen Perspektive (u. a. Franzkowiak, 2009, S. 117f). Sozialer Arbeit wird eine besondere Relevanz in der Arbeit mit sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen mit dem Ziel verbesserter Teilhabe und Ressourcenstärkung zugesprochen. Aufgrund des bestehenden Zugangs zu diesen Personengruppen und der besonderen sozialpädagogischen Methoden und Konzepte, z. B. lebenslagensensible Motivierungsarbeit oder sozialräumlich aktivierende und vernetzende Ansätze, kann Soziale Arbeit insbesondere im Kontext der Prävention und Gesundheitsförderung wirksam werden (u. a. Franzkowiak, 2009; Homfeldt et al., 2011; Waller, 2007).
Im medizinisch dominierten Gesundheitssystem ist die Soziale Arbeit bislang in wenigen Teilsektoren gleichberechtigt, dies ist in der Suchtprävention und -hilfe, der gesundheitlichen Bildung von Kindern und Jugendlichen, der gemeindenahen und vernetzenden sowie zunehmend auch in der Altenhilfe der Fall (Franzkowiak, 2009, S. 122).
Nach Franzkowiak werden die folgenden Bereiche gesundheitsbezogener Sozialer Arbeit unterschieden.
1. Soziale Arbeit im Gesundheitswesen
Soziale Arbeit im Gesundheitswesen zielt darauf, die Risiken krankheitsbedingter sozialer Benachteiligung zu vermindern. Sie hat in verschiedenen Feldern im Gesundheitssystem einen festen Platz, u. a. als Teil der integrierten Versorgung im Krankenhaus, in Rehabilitationseinrichtungen, in der Suchthilfe, im Öffentlichen Gesundheitsdienst, in der psychiatrischen Versorgung, in der Frühförderung und der Sozialpädiatrie sowie in der Selbsthilfe (Franzkowiak, 2009, S. 118ff).
Aufgrund der komplementären Aufgaben Sozialer Arbeit im primär pflege- bzw. gesundheitsbezogen ausgerichteten Gesundheitswesen spricht Homfeldt hier von sekundären Settings (Homfeldt, 2012, S. 489).
2. Gesundheitsfördernde Arbeit im Sozial- und Bildungswesen
Auch außerhalb des Gesundheitssystems hat Gesundheitsförderung in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen. Als Beispiele sind der Aufbau kommunaler Präventionsketten, das Programm »Gute Gesunde Schule« oder Angebote der präventiven Kinder- und Jugendhilfe zu nennen (Franzkowiak, 2009, S. 120f).
3. Klinische Sozialarbeit
Seit den 1990er Jahren hat sich in Deutschland, angelehnt an die Clinical Social Work in den USA, die klinische Sozialarbeit in Praxis und Ausbildung langsam etabliert (ebd., S. 121f). Gemäß der Sektion Klinische Sozialarbeit der Deutschen Gesellschaft für Soziale Arbeit (DGSA) spricht man von klinischer Sozialarbeit
»wenn die Soziale Arbeit in Behandlungskontexten erfolgt und eigene Beratungs- und Behandlungsaufgaben wahrnimmt. Ausgehend von einem bio-psycho-sozialen Grundverständnis von Gesundheit, Störung, Krankheit und Behinderung liegt ihr Fokus auf der psychosozialen Diagnostik, Beratung und Behandlung von Personen im Kontext ihrer Lebenswelt« (DGSA, 2019).
3.1.2 Bewegung und Gesundheit
Der Bewegung wird gesundheitspolitisch ein hoher Stellenwert beigemessen. Dies zeigt sich u. a. in der Nennung als eines der nationalen Gesundheitsziele durch das Bundesgesundheitsministerium im Jahr 2006. Die im Rahmen der Bund-Länder-Initiative zur Festlegung und Entwicklung von nationalen Gesundheitszielen und ihrer Umsetzung im Alltag festgelegten Gesundheitsziele zielen neben der Verbesserung der Gesundheit Einzelner oder bestimmter Gruppen auf die Stärkung gesundheitsfördernder Strukturen. Die Förderung sportlicher Aktivitäten, benannt als Gesundheitsziel »Gesund aufwachsen: Lebenskompetenz, Bewegung, Ernährung«, wird vom Bundesgesundheitsministerium neben Ernährung als wesentlicher Einflussfaktor bei der Herstellung gesundheitsfördernder Rahmenbedingungen, z. B. in der Kita und in der Familie, benannt (BGM, 2019).
Da die Kindheit als sensible und prägende Periode für gesundheitsbezogene Entwicklungen wie die Entstehung und mögliche Manifestation gesundheitsriskanten Verhaltens oder für entwicklungsbedingte psychosoziale Störungen im Erwachsenenalter gilt (u. a. Lohaus et al., 2005; Telama et al., 2014), setzen präventive Bemühungen in dieser Altersgruppe an.
Mit der sogenannten KiGGS-Studie, der Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland des Robert Koch-Instituts, liegen repräsentative Erhebungsdaten zum gesundheitlichen Zustand von Kindern und Jugendlichen in Deutschland über einen Zeitraum von knapp 15 Jahren vor. Mittlerweile liegen die KiGGS-Basiserhebung (2003–2006), die KiGGS Welle 1 (2009–2012) und die KiGGS Welle 2 (2014–2017) vor. Die KiGGS Welle 2 wird durch fünf Vertiefungsmodule ergänzt. Diese behandeln die Themen psychische Gesundheit (BELLA), Ernährung (EsKiMo für 6- bis 17-Jährige und KiESEL für das Alter von sechs Monaten bis zu fünf Jahren), Motorik (MoMo) und Umwelt (GerES) (siehe hierzu auch die Studie Health Behaviour in School-Aged Children, HBSC, 2015).
Laut KIGGS-Studie haben sich der Gesundheitszustand und das Bewegungsverhalten von Kindern verschlechtert. Insbesondere werden der Bewegungsmangel und, damit verbunden, die Gefahr von motorischen Defiziten, Übergewicht und Haltungsschäden sowie psychosozialen Auffälligkeiten benannt (BMFSFJ, 2009b, S. 10). Insgesamt 14,8 % der Jungen und Mädchen im Alter von zwei bis 17 Jahren sind als übergewichtig einzustufen, darunter 6,1 % mit Adipositas. Verglichen mit Zahlen aus den 1980/90er Jahren ist ein Anstieg um 50 % bei übergewichtigen bzw. um 100 % bei adipösen Heranwachsenden zu verzeichnen (Kurth & Schaffrath-Rosario, 2010). Ergebnisse der KiGGS-2-Studie zeigen mit 15,4 % übergewichtigen Kindern und Jugendlichen einen leichten Anstieg, der Anteil der adipösen Kinder und Jugendlichen ist mit 6 % gleichgeblieben (Krug et al., 2018, S. 3).
Die gesundheitliche Entwicklung von Kindern und Jugendlichen steht in engem Zusammenhang mit körperlicher Aktivität und Bewegung. Körperliche Aktivität hat u. a. positive Wirkungen auf die Vorbeugung von Herz-Kreislauf- Erkrankungen und Übergewicht sowie die motorische Leistungsfähigkeit (Smith, 2014; Opper et al., 2005; Sygusch, 2005). Die sogenannte Motorik-Modul-Studie (MoMo) des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) erfasst als Teilmodul der KiGGS-Studie erstmals repräsentativ die motorische Leistungsfähigkeit und körperlich-sportliche Aktivität von Kindern und Jugendlichen im Alter von vier bis 17 Jahren in Deutschland. Mittlerweile liegen die Basiserhebung (2003–2006), die MoMo-Welle 1 (2009–2012) und die MoMo-Welle 2 (2014–2016) vor. Durch die Verknüpfung mit KiGGS-Daten werden Zusammenhänge zwischen Bewegungs- und Gesundheitsindikatoren sichtbar.
In der Studie wird zwischen der motorischen Leistungsfähigkeit und der körperlich-sportlichen Aktivität unterschieden (BMFSFJ, 2009b, S. 18ff). Hinsichtlich der motorischen Leistungsfähigkeit zeichnet sich gemäß der meisten vorangegangenen Studien