Heidi. Johanna Spyri
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Johanna Spyri
Heidi
Impressum
Covergestaltung: Steve Lippold
Digitalisierung: Gunter Pirntke
ISBN: 9783955012144
2014 by andersseitig.de
andersseitig Verlag
Dresden
www.andersseitig.de
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Inhalt
Teil I Heidis Lehr- und Wanderjahre
Zum Alm-Öhi hinauf
Im Hause Sesemann geht's unruhig zu
Teil II Heidi kann brauchen, was es gelernt hat
Ein Gast auf der Alm
Es geschieht, was keiner erwartet hat
Es wird Abschied genommen, aber auf Wiedersehen
Teil I Heidis Lehr- und Wanderjahre
Zum Alm-Öhi hinauf
Vom freundlich gelegenen alten Städtchen Mayenfeld aus führt ein Fußweg durch grüne Fluren bis zum Fuße der Höhen, die groß und ernst auf das Tal hemiederschauen. Wo der Fußweg zu steigen anfängt, beginnt bald das Weideland mit dem kurzen Gras und den kräftigen Bergkräutem.
Auf diesem schmalen Bergpfad stieg an einem hellen, sonnigen Junimorgen ein junges Mädchen mit einem Kind an der Hand hinan. Das Kind war trotz der heißen Junisonne so verpackt, als hätte es sich eines bitteren Frostes zu erwehren. Es mochte kaum fünf Jahre zählen und hatte sichtlich zwei, wenn nicht drei Kleider übereinander angezogen und drüberhin ein großes, rotes Baumwollentuch um und um gebunden, so dass die kleine Person eine völlig formlose Figur darstellte.
Eine Stunde vom Tal aufwärts mochten die beiden gestiegen sein, als sie zu dem Weiler kamen, der auf halber Höhe der Alm liegt und „Dörfli“ heißt. Hier wurden die Wandernden fast von jedem Hause aus angerufen, einmal vom Fenster, einmal von der Haustür und einmal vom Wege her, denn das Mädchen war in seinem Heimatort angelangt. Es machte aber nirgends halt, sondern erwiderte alle ihm zugerufenen Grüße und Fragen im Vorbeigehen, ohne stillzustehen.
„Bist du müde, Heidi?“, fragte das junge Mädchen, „Nein, es ist mir heiß“, entgegnete das Kind.
„Wir sind jetzt gleich oben; du musst dich nur noch ein wenig anstrengen und große Schritte nehmen“, ermunterte die Gefährtin.
Jetzt gesellte sich eine breite, gutmütig aussehende Frau zu den beiden. Das Kind wanderte nun hinter den zwei alten Bekannten her, die sofort in ein lebhaftes Gespräch gerieten.
„Aber wohin willst du eigentlich mit dem Kinde, Dete?“, fragte jetzt die neu Hinzugekommene.
»Ich will mit ihm hinauf zum Öhi, es muss dort bleiben.“
„Was, beim Alm-Öhi soll das Kind bleiben? Du bist, denk’ ich, nicht recht bei Verstand, Dete! Wie kannst du so etwas tun! Der Alte wird dich aber schon heimschicken mit deinem Vorhaben!“
»Das kann er nicht, er ist der Großrater. Ich habe das Kind bis jetzt gehabt, nun soll er das Seine tun.“
»Ja, wenn der wäre wie andere Leute, dann schon“, bestätigte die breite Bärbel; „aber du kennst ja den. Was wird der mit einem Kinde anfangen und dann noch mit einem so kleinen! Das hält’s nicht aus bei ihm! Wo willst du denn hin?“
„Nach Frankfurt“, erklärte Dete, „da bekomm’ ich eine gute Stellung.“
„Ich möchte nicht das Kind sein“, rief die Bärbel mit abwehrender Gebärde aus. „Es weiß ja kein Mensch, was mit dem Alten da oben ist! Mit keinem will er etwas zu tun haben. Ich möchte nur wissen, was der Alte auf dem Gewissen hat, dass er solche Augen macht und mutterseelenallein da droben auf der Alm bleibt und sich fast nie blicken lässt. Mac sagt allerhand von ihm; du weißt doch gewiss auch etwas davon, von deiner Schwester, nicht, Dete?“
Die Bärbel hatte sich erst vor kurzer Zeit nach dem Dörfli verheiratet und war noch nicht so ganz vertraut mit allen Erlebnissen und Persönlichkeiten der Umgegend. Die Dete, ihre gute Bekannte, war dagegen vom Dörfli gebürtig und hatte hier gelebt mit ihrer Mutter bis vor einem Jahr. Da war diese gestorben, und Dete war nach Bad Ragaz hinübergezogen, wo sie im großen Hotel als Zimmermädchen einen guten Verdienst fand. Sie war auch an diesem Morgen mit dem Kind von Ragaz hergekommen; bis Mayenfeld hatte sie auf einem Heuwagen fahren können, auf dem ein Bekannter von ihr heim fuhr und sie und das Kind mitnahm. — Die Bärbel wollte also diesmal die gute Gelegenheit, etwas zu vernehmen, nicht ungenutzt Vorbeigehen lassen; sie fasste vertraulich die Dete am Arm und sagte: »Du weißt, was mit dem Alten ist und ob der immer ein solcher Menschenhasser war!“
„Ob er immer so war, kann ich nicht genau wissen: ich bin jetzt sechsundzwanzig, und er ist sicher siebzig Jahr alt; so hab’ ich ihn nicht gesehen, als er jung war, das wirst du nicht erwarten.“
Sie sah sich um, ob das Kind nicht zu nahe sei und alles anhöre, was sie sagen wollte; aber Heidi war gar nicht zu sehen, es musste schon seit einiger Zeit den beiden Begleiterinnen nicht mehr gefolgt sein, diese hatten es jedoch im Eifer der Unterhaltung nicht bemerkt.
»Jetzt seh’ ich’s“, erklärte die Bärbel; „siehst du dort?“, und sie wies mit dem Zeigefinger weit ab vom Bergpfad. „Es klettert die Abhänge hinauf mit dem Geißenpeter und seinen Geißen. Es ist aber gerade recht, er kann nun nach dem Kinde sehen, und du kannst mir umso besser erzählen“.
„So viel ist da nicht zu erzählen. Der Alte zog schon als ganz junger Bursche hinaus in die Fremde und hat dort auch geheiratet, aber seine Frau bald wieder verloren. Nie hat er darüber gesprochen, und es hätte nicht einer im Dörfli etwas von der Ehe gewusst, wenn er nicht bei seiner Heimkehr nach langen Jahren den Buben, den Tobias, mitgebracht hätte. Gerade weil niemand etwas Bestimmtes wusste, wurde so mancherlei gemunkelt. Der Alte soll es zu Reichtum gebracht und das Geld wieder vertan haben. Aber er musste noch etwas besitzen, denn er ließ den Buben, den Tobias, ein Handwerk erlernen. Der war ein ordentlicher Mensch und wohlgelitten bei allen Leuten im Dörfli. Dem Alten traute