Die neue Praxis Dr. Norden 4 – Arztserie. Patricia Vandenberg
»So fit möchte ich auch noch sein, wenn ich in seinem Alter bin«, raunte Sophia Lydia zu, nachdem sie Ludger Mauser, den ersten Patienten des Tages, aufgerufen hatte. »Er ist 84 und will an einem Marathon teilnehmen.«
»Dann ist er wegen eines Check-ups hier?«, fragte Lydia und sah Ludger nach, der mit federnden Schritten durch den Gang lief, an dessen Ende Danny Nordens Sprechzimmer lag.
»Ja, ist er. Sieh mal, ich habe eine Nachricht von Alexander.« Sophia, eine zarte junge Frau mit hellblondem Haar, zeigte auf ihr Telefon, das sie aus ihrer Hosentasche gezogen hatte. Sie schaltete das Video an, das sie vom Sohn ihrer Cousine Charlotte bekommen hatte, und legte das Telefon auf den Empfangstresen der Praxis, damit auch Lydia das Video sehen konnte.
»Hallo, Sophia, wann kommst du uns besuchen? Ich warte auf dich«, sagte der kleine Junge mit den blonden Locken, der vor einem prächtigen Landhaus inmitten von Weinbergen stand.
»Er vermisst dich«, stellte Lydia lächelnd fest.
»Ich vermisse ihn auch, und ich vermisse Markus«, flüsterte sie.
»Vielleicht vermisst er dich auch.«
»Er ist inzwischen sicher längst verlobt, schon vergessen?«, seufzte Sophia. Sie konnte es selbst nicht verstehen, dass sie noch immer an Markus dachte. Während Charlottes letzten Besuchs hatten sie ihren alten Jugendfreund wieder getroffen, und Sophias Liebe zu ihm war erneut aufgeflammt, obwohl sie wusste, dass er nicht mehr frei war. »Außerdem habe ich im Moment andere Sorgen, als mich mit einer unglücklichen Liebe zu beschäftigen«, schloss sie das Thema Markus erst einmal ab.
»Ich weiß, Sophia. Meine Mutter wird euch hoffentlich bald einen guten Anwalt empfehlen können.«
»Ich bin ihr wirklich dankbar für ihre Hilfe.«
»Meine Mutter ist Polizistin geworden, weil sie die Guten vor den Bösen beschützen will. Und was deine Familie mit dir und deiner Mutter macht, ist wirklich böse. Ich meine, erst verweigern die von Arnsberg euch das Erbe deines Vaters und jetzt sollt ihr noch für irgendwelche utopischen Schulden haften. Das ist das Allerletzte«, schimpfte Lydia.
»Meine Mutter meinte gestern Abend, dass es möglicherweise nur eine leere Drohung ist. Charlottes Vater will uns einfach nur von der Familie fernhalten, damit wir erst gar nicht mehr auf die Idee kommen, unsere Ansprüche durchzusetzen.«
»Was sagt Charlotte zu dieser Drohung?«
»Ich habe ihr noch nichts davon erzählt. Ich will ihr nicht ständig sagen, wie niederträchtig ihr Vater sich meiner Mutter und mir gegenüber benimmt.«
»Charlotte kennt ihre Eltern, du kannst sie mit dieser neusten Attacke gegen dich und deine Mutter nicht schocken.«
»Vielleicht nicht, aber sie hat in letzter Zeit selbst genug mitgemacht. Ich werde erst einmal abwarten, wie die Sache sich entwickelt.« Seitdem Charlotte einen italienischen Adligen geheiratet hatte und bei seiner Familie lebte, hatten sie kaum noch Kontakt gehabt. Nach Charlottes letzten Besuch bei ihren Eltern hatte sich das geändert. Charlotte hatte der Diagnose ihrer Ärzte, dass Alexander an ADHS leiden sollte, nicht vertraut und hatte ihn auf Sophias Rat hin Danny vorgestellt. Danny teilte ihre Bedenken und konnte bestätigen, dass Alexanders Diagnose falsch war. Durch dieses Ereignis waren sich die Cousinen wieder nähergekommen, was beide als glückliche Fügung empfanden.
»Du könntest Markus um Hilfe bitten. Er kennt deine Familie. Er wäre der perfekte Anwalt für euch.«
»Auf keinen Fall. Ich werde ihn nicht in diese Geschichte hineinziehen. Er hat sein Leben, und ich habe meins. Diese Leben sind nicht dazu bestimmt, sich erneut zu kreuzen.«
»Wer weiß schon, was uns wirklich bestimmt ist«, sagte Lydia leise und betrachtete den kleinen Jungen, der auf Sophias Handydisplay zu sehen war.
»Guten Morgen, die Damen, gibt’s auch ein bissel Aufmerksamkeit für uns Patienten oder schaut ihr euch noch weitere Videos an?«
»Wir sind ganz für Sie da, Frau Meier«, wandte sich Lydia der Mittsechzigerin in dem dunklen Trachtenkostüm zu, die sich, die Hände in die Hüften gestemmt vor dem Tresen aufgebaut hatte.
»Um mich geht’s heut nicht. Mit meinem Mann stimmt etwas nicht. Jetzt komm schon her, Toni, erzähl den Madln, was mit dir los ist«, forderte sie den korpulenten Mann in der blauen Steppjacke auf, der einen Schritt hinter ihr stand.
Toni Meier war einen halben Kopf größer als seine Frau, die Jacke spannte über seinem Bauch, und er hatte die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Ganz offensichtlich war er nicht freiwillig in die Praxis gekommen, was auch sein ständiger Blick in Richtung Ausgang signalisierte.
»Was können wir für Sie tun, Herr Meier?«, fragte Lydia freundlich, als Toni direkt vor ihr stand, aber kein Wort herausbrachte.
»Toni, bitte, nun rede schon«, mischte sich Gusti gleich wieder ein.
»Du wolltest doch, dass ich herkomme, dann sag halt, was du willst«, entgegnete Toni genervt.
»Mei, Mannsbilder, ist das denn so schwer, zuzugeben, dass euch etwas fehlt«, seufzte Gusti. »Also dann, seitdem mein Toni ein bissel Sport treibt, hat er’s mit dem Kreislauf. Das heißt, wir brauchen ein EKG und einmal Labor mit großem Blutbild.«
»Ich denke, Sie sollten zuerst mit Doktor Norden sprechen. Es könnte doch sein, dass er noch andere Parameter hinzuziehen muss, um eine Diagnose zu stellen«, sagte Lydia.
»Andere Parameter, ah so. Welche sollen das denn sein?«, fragte Gusti ungehalten.
»Gut jetzt, Gusti, Frau Seeger hat recht, wir sprechen zuerst mit dem Herrn Doktor.« Toni nickte Lydia zu, hakte sich bei seiner Frau unter und ging mit ihr ins Wartezimmer, in dem gerade noch zwei Plätze frei waren.
Mit seinem dunklen Holzboden, den gelben Sesseln und den Grünpflanzen strahlte der Raum eine Atmosphäre aus, die an eine Hotellounge erinnerte.
Patienten, die einem Arztbesuch lieber aus dem Weg gehen würden, nahm dieses Ambiente einen Teil ihrer Angst.
»Bitte, dann können Sie nebeneinander sitzen«, bot eine junge Frau den Meiers gleich ihren Platz an, der die beiden freien Sessel voneinander trennte.
»Schönen Dank, Frau Wunsgraben«, bedankte sich Gusti Meier bei Eva Wunsgraben, die vor einiger Zeit in das Haus gegenüber der Meiers eingezogen war. »Geht’s Ihnen nicht gut?«, fragte sie leise, nachdem sie sich auf den Sessel neben Eva gesetzt hatte.
»Ich schlafe nicht gut«, vertraute Eva ihr an.
»Geh, eine junge Frau wie Sie mit drei Kindern? Sie müssen doch abends todmüde sein«, wunderte sich Gusti und musterte die zierliche Frau in dem langen Strickkleid, die ihr dunkelblondes Haar zu einem dicken Zopf geflochten trug.
»Ja, ich weiß, das denkt jeder«, seufzte Eva.
»Mei, es wird doch nichts Ernstes sein? Wie sollt denn Ihr Mann mit den beiden Buben und dem Madl allein zurechtkommen? Die Buben sind doch gerade erst in die Schule gekommen, und das Madl ist erst drei Jahre alt.«
»Eigentlich gehe ich nicht davon aus, dass mir Doktor Norden gleich mein Todesurteil verkünden wird«, entgegnete Eva und sah Gusti verblüfft an.
»Freilich nicht, aber wer weiß schon …«
»Gusti, bittschön, sei einfach mal still. Sie hat zu viel Fantasie, wissen Sie«, mischte sich Toni ein und nickte Eva freundlich zu.
»Ich sag ja schon nichts mehr«, brummte Gusti. Sie beugte sich nach vorn, nahm eine Zeitschrift von dem Tisch, der in ihrer Reichweite im Raum stand, und schlug sie auf. »Skandal im Königshaus, interessant«, murmelte sie, und gleich darauf war ihr Kopf hinter der Zeitschrift verschwunden.
»Der arme Herr Meier, er hat es sicher nicht leicht zu Hause. Offensichtlich hat er sich in allem nach seiner Frau zu richten«, raunte Sophia Lydia zu, als sie noch einmal ins Wartezimmer schaute, bevor sie in den Raum mit dem EKG-Gerät ging.
Danny hatte ihr über das Haustelefon mitgeteilt, dass Herr Mauser gleich zu einem EKG zu ihr kommen würde.