Herr Rudi. Anna Herzig

Herr Rudi - Anna Herzig


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      Anna Herzig wurde 1987 als Tochter eines Ägypters und einer Kanadierin in Wien geboren. Sie lebt in Salzburg. Nach mehreren Veröffentlichungen im Digitalen erschien 2017 mit »Sommernachtsreigen« Herzigs erstes gedrucktes Buch bei Voland & Quist.

      Verlag Voland & Quist GmbH, Berlin, Dresden und Leipzig, 2020

      © by Verlag Voland & Quist GmbH

      Korrektorat: Kristina Wengorz

      Umschlaggestaltung: Nina Bachmann

      Satz: Fred Uhde

      Druck und Bindung: PBtisk, Czech Republic

       www.voland-quist.de

      eISBN 978-3-863-91262-8

      Für den Herrn Rudi und seinen Beschützer.

      AUFTRITT HERR RUDI, bitte schön.

      DER HERR RUDI KNIET NACKT auf dem Boden eines Hotelzimmers. Sein Körper bedeckt mit Badewannenschaum. Er stützt sich auf den Resten seiner Existenz ab. Auf allen vieren zu kriechen, lässt einen demütig werden. So hört man.

      Eine durchwühlte Reisetasche liegt auf dem Bett. Seine liebste, die mit den vielen bunten Enten darauf. Vereinzelte Blaubeeren tummeln sich auf dem Bettlaken. Friedlich sehen sie aus, scheinen sich wohlzufühlen.

      Nicht weinen, Rudi.

      Er hält sich mit zwei Fingern an der Katzenohrenhaube fest, die ihm der Fritz geschenkt hat. Versucht, die Schmerzen des Hexenschusses durch die Finger in die Haube umzuleiten. Energetischer Kuhhandel sozusagen.

      Frauenbeine gehen vor seinen Augen auf und ab. Ein Fuß in einer gelben, der andere in einer blauen Socke. Knöchel, Knie und weiter hinauf: der verheißungsvolle Weg zu schönen Erinnerungen.

      Aus dieser Sicht nimmt er seine Umgebung nur mehr halbiert wahr. Vielleicht noch ein paar Minuten so bleiben. Der Ausblick aus seinem Zimmer offenbart wenig Trostspendendes.

      »Ich seh dich nicht mehr, Livi. Warum kann ich dich nicht sehen?«, fragt er.

      Aus irgendeiner Ecke hört er sie doch kichern.

      »Hallo?«, fragt sie.

      »Livilein …«, versucht er, sie zu locken.

      Stille.

      »Livi, versteh mich doch«, sagt er.

      »Nein.«

      »Bitte.«

      »Nein.«

      »Es ist meine Entscheidung«, sagt der Herr Rudi in seiner autoritärsten Gerichtsvollzieherstimme und schlägt mit der flachen Hand auf den Boden.

      »Und ich hab Nein gesagt«, antwortet sie.

      »Jetzt gib mir die Kugel, sonst lernst du mich kennen. Und zwar richtig.«

      »Nein.«

      Mit dem rechten Bein tritt er, so fest er kann, nach hinten aus, gegen die Wand. Und wimmert den Schmerz von der Seele in das Knie, in den Fuß.

      »Du bist langsam«, quengelt sie, »langsam und langweilig.«

      Junge Erwachsene, denkt der Herr Rudi.

      »Spüren …«, sagt sie.

      »Geht nicht«, antwortet er.

      »Aber ich will!«

      »Es. Geht. Nicht. Livi.«

      »Ich will, ich will.«

      Wenn er wenigstens die Salzburger Berge sehen könnte.

      »Wenn ich jetzt den Untersberg sehen könnte.«

      »Dann?«, fragt die Livi.

      »Dann wäre alles anders.«

      Vielleicht, vielleicht auch nicht. Auf seiner Zunge tobt ein Blaubeersturm.

      Wenn er den Nebel in seinem Kopf wie einen Vorhang beiseiteschieben könnte, vielleicht würde es gelingen, einen Blick auf Livi zu erhaschen. Das Problem mit Nebel jener Art: Er ist hartnäckig.

      Das Problem mit Geistern jener Art: Sie sind hartnäckig.

      ALSO SCHNUPPERT er. Ist bemüht, sie anhand ihres Geruches zu finden. Wenn die Livi auftaucht, manifestiert sich das nämlich in einem zarten Duft aus Orangen und Zitronen. Und der knallt dem Herrn Rudi direkt bis in die Seele.

      »Livi, gib mir die Kugel«, murrt er.

      »Nein«, antwortet sie.

      »Wenn ich was entscheide, kann ich auch mit den Konsequenzen leben. Verstehst mich.«

      »Fang mich doch.«

      »Livi, nein.«

      »Doch.«

      »Jetzt gib mir die Kugel.«

      »Brauchst du nicht.«

      »Doch. Für eine Waffe braucht man eine Kugel.«

      »Warum?«

      »So will es der Mechanismus«, schnauft er.

      »Hallo?«, fragt sie.

      »Nein.«

      »Hallo, hallo?«, fragt sie.

      »Nein, nein.«

      »Ich hab das beschlossen, ich will nicht mehr. Kannst du mich nicht ein bisschen verstehen?«

      »Spiel was mit mir.«

      »Gib mir die Kugel für die Waffe, du lästiges Kind.«

      »Ich bin neunzehn.«

      »Ist doch dasselbe.«

      »Ist gar nicht dasselbe Und keine Kugel für dich. Pastabasta«, schmollt sie.

      Und der Herr Rudi weiß: Weiterdiskutieren ist bestenfalls wertlos.

      WENN ER DEN FRITZ jetzt anrufen und sagen würde: »Du, ich brauch dich.«

      »Fritz. Ich brauch das jetzt, dass du dich mit mir in die Bella-Palma-Pizzeria setzt. Hallein, das war doch immer unser Revier. Ein Glas Rotwein nach dem anderen. Und noch eins und dann immer so weiter. Bis uns richtig fein die Lichter ausgehen.«

      Weil Wein, alleine getrunken, meist nach der größten Einsamkeit schmeckt. Und ein bisschen nach Wein. Aber hauptsächlich nach: Ich möchte reden. Bitte. Aber er hat dem Fritz nichts gesagt. Weil, denkt der Herr Rudi, die Dinge, die einem passieren, die Angelegenheiten von demjenigen sind, dem die Dinge eben passieren.

      »Ach was, Rudi«, würde der Fritz sagen, »egal, was ist, wir kriegen das wieder hin.«

      Vorsichtig probiert er also trotzdem eine Trockenübung, die seinen Freund vielleicht nicht in eine sofortige, alles mobilisierende Panik versetzen würde.

      »Fritz.«

      Räuspern.

      »Fritz, ich …«

      Räuspern.

      »Wie geht’s dir. Ich brauch was. Nein. Anders.«

      Räuspern.

      »Fritz. Ich hab. Ich. Nein. Okay.«

      Räuspern.

      »Fritz. Ich hab dich lieb.«

      Vergiss es, Rudi, denkt er, zieh da niemanden mit hinein.

      Es beginnt zu regnen. Nicht nur in Salzburg, sondern ebenso im Kopf vom Herrn Rudi.

      »DA FRAGST DU DICH SCHON«, hat der Herr Rudi vor ein paar Wochen gesagt.

      »Was?«, hat der Fritz geantwortet.

      »Ich mein, da fragst du dich schon, was es zu bedeuten hat, das Leben.«

      »Ja,


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