Der Landdoktor Classic 37 – Arztroman. Christine von Bergen
Tante …« Liane konnte es nicht mehr hören. Schon seit zwei Tagen hing Mathilda ihr nun schon mit diesem Vorschlag in den Ohren. Sie wusste nur zu gut, warum. Dabei war sie glücklich, wenigstens in den Nächten in dem einfachen, aber gemütlichen Pensionszimmer ihre Ruhe zu haben.
»Ich brauche keine Untersuchung«, fuhr sie energischer fort. »Ich bin nicht krank. Wenn du nicht ständig auf mich einreden würdest, hätte ich auch keine Kopfschmerzen. Und zum Ausgleich zu meiner Computerarbeit mache ich Sport.«
Ihre Lippen bebten vor Verzweiflung und Wut. Das waren immer die Momente, in denen sie am liebsten weggelaufen wäre. Doch konnte sie ihre Tante allein lassen? Mathilda hatte nur sie. Keine Kinder, keine anderen Verwandten. Sie fühlte sich für ihre Tante verantwortlich. Schließlich hatte sie sie nach dem Unfalltod ihrer Eltern bei sich aufgenommen und ihr ein schönes Zuhause geboten. Ohne die Schwester ihrer Mutter wäre sie im Waisenhaus gelandet.
Diese Gedanken jagten einander in Lianes Kopf, während die junge Frau mit den Tränen kämpfte.
»Denk noch einmal darüber nach«, hörte sie ihre Tante nun in weicherem Ton sagen. »Und jetzt könntest du ins Dorf fahren und mir eine Tageszeitung kaufen.«
Liane wandte sich zur Tür, wurde dann aber wieder zurückgerufen. »Ja, Tante?«
»Bring mir noch eine Tafel Schokolade mit. Und beeil dich bitte, ich habe heute Nachmittag einen Termin bei Dr. Brunner.«
Die junge Frau seufzte leise und verließ das Zimmer.
*
Als Liane aus dem Zeitungskiosk trat, kündigten die Glocken der kleinen Kirche gerade mit dreizehn Schlägen die Uhrzeit an. Sie blieb auf dem schmalen Bürgersteig stehen und sah sich um.
Wie idyllisch es hier war. Der goldene Wetterhahn auf dem Kirchturm blitzte in der Sonne. Die schmale gepflasterte Hauptstraße wurde zu beiden Seiten von kleinen Geschäften gesäumt. Unter dem großen Lindenbaum im Biergarten des Gasthauses saßen ein paar Dörfler beim Glas Wein, und die Leute standen am Gartenzaun zusammen und plauderten mit dem Nachbarn. In Ruhweiler herrschte eine beschauliche Ruhe, die allein schon von großem Erholungswert war, ganz abgesehen von der schönen Landschaft und der guten Luft.
Liane konnte nicht anders, sie schlenderte die Straße hinunter, betrachteten die Auslagen in dem Souvenirladen, in der kleinen Boutique und dem Geschäft, das deftige Schwarzwälder Schmankerln anbot.
»Hunger?«, fragte da eine Stimme hinter ihr.
Sie erkannte die sympathische tiefe Männerstimme auf Anhieb, und ihr Herz machte den sprichwörtlichen Sprung. Als sie sich umdrehte, blickte sie in zwei Augen, die die Farbe des Sommerhimmels besaßen.
»Sie?«, fragte sie erfreut und erstaunt zugleich.
»Ja, ich.« Vor ihr stand der Mann, der vor zwei Tagen den Reifen gewechselt hatte. Er lächelte sie so an, als würde er sich ebenfalls über dieses Wiedersehen freuen.
»Das ist ja …« Plötzlich fühlte sie sich ganz verlegen, was bestimmt an seinem tiefen Blick lag, der ihren viel zu lange festhielt.
»Das ist wirklich ein Zufall«, sprach er ihren begonnenen Satz zu Ende. »Ich habe dich von hinten zuerst gar nicht erkannt.«
Sie räusperte. »Was machst du denn hier?«, fragte sie, wobei sie das Du gern annahm.
»Ich arbeite hier in Ruhweiler.« Er zögerte kurz, streckte ihr dann mit einem jungenhaften Lächeln die Hand entgegen und stellte sich vor: »Daniel. Daniel Hoffmann.«
Gern schlug sie in seine Hand ein. Sie fühlte sich warm und angenehm trocken an.
»Liane Sauter.«
Sein Händedruck war fest und kräftig. Er vermittelte ihr ein Gefühl von Zuverlässigkeit und Stärke.
Daniel lächelte fröhlich und sagte: »Ich habe gerade Mittagspause. Trinken wir einen Kaffee zusammen?«
Nur kurz dachte sie daran, dass ihre Tante auf die Zeitung wartete, und auf die Schokolade. Trotzdem nickte sie entschlossen.
»Sehr gern«, antwortete sie.
*
Nach den ersten Minuten, in denen sie beide etwas unsicher miteinander umgingen, kam zwischen ihnen schnell eine entspannte Unterhaltung in Gang. Sie knüpften daran an, welche Zufälle es doch im Leben geben würde, dass sie sich nach dem Reifenwechsel in Ruhweiler noch einmal wiedergesehen hatten.
»Machst du hier Urlaub?«, erkundigte sich Daniel neugierig.
Eine andere Möglichkeit konnte er sich nicht vorstellen.
»Nein, meine Tante ist Patientin in der Miniklinik auf dem Praxishügel«, lautete die Antwort der schönen jungen Frau. »Bei Dr. Brunner. Kennst du den?«
Da musste er lachen. »Klar kenne ich unseren Landdoktor. Den kennt jeder hier im Tal und weit darüber hinaus.« Er zögerte und sah sie an. »Was fehlt deiner Tante denn? Auf mich hatte sie eigentlich …« Er verstummte.
Da lachte Liane hellauf. »Ich weiß, was du sagen willst. Ich weiß auch nicht, was sie richtig hat. Zurzeit sind es ihre Beine. Sie hat ständig Angst um ihre Gesundheit«, fügte sie mit einer wegwerfenden Geste hinzu.
»Und was machst du in der Zeit, während sich deine Tante therapieren lässt?«, erkundigte er sich.
»Ich bin bei ihr. Tante Mathilda braucht mich.« Der Seufzer, dem sie ihrer Antwort folgen ließ, verriet ihm, dass diese Gesellschaft nicht gerade zu ihren Lieblingsbeschäftigungen gehörte.
»Gefällt es dir hier?«, erkundigte er sich.
»Sehr.« Das eine Wort kam ihr aus dem Herzen. Ein Leuchten trat in ihre Augen, das sie noch wundervoller machten.
»Und du? Kommst du von hier?«, wollte sie nun wissen.
»Aus dem Nachbarort. Nach dem Abitur bin ich zum Studium nach Ulm gegangen, habe danach dort in einer Steuerberaterkanzlei gearbeitet, die Prüfung gemacht und bin erst seit einer Woche wieder zurück. Ich habe hier ein Steuerberaterbüro übernommen.«
Und sogleich hatten sie wieder ein neues Thema. Sie sprachen über Ulm, übers Allgäu, das hinter Ulm lag, und stellten fest, dass sie viele gleiche Interessen hatten. Irgendwann fiel Lianes Blick auf ihre Armbanduhr. Sie erschrak.
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