Agnes Grey. Anne Bronte

Agnes Grey - Anne Bronte


Скачать книгу
>

      

      Anne Brontë

      Agnes Grey

      Übersetzung und Nachwort von Stefanie Kuhn-Werner

      Reclam

      Englischer Originaltitel: Agnes Grey (1847)

      1990, 2020 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

      Durchgesehene Ausgabe 2020

      Covergestaltung: Anja Grimm Gestaltung

      Coverabbildung: © shutterstock.com / Theraphosath

      Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

      Made in Germany 2020

      RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

      ISBN 978-3-15-961702-2

      ISBN der Buchausgabe 978-3-15-020593-8

       www.reclam.de

      Inhalt

        Agnes Grey

        Anmerkungen

        Nachwort

        Zeittafel

      Kapitel 1

      Das Pfarrhaus

      In allen wahren Geschichten steckt ein Stück Belehrung, doch ist dieser Schatz häufig nur schwer zu entdecken und, wenn man ihn dann gefunden hat, oft so geringfügig, dass man sich fragt, ob der trockene, schrumpelige Kern überhaupt die Mühe wert war, die Nuss zu knacken. Es steht mir nicht an zu beurteilen, ob dies bei meiner Geschichte der Fall ist oder nicht. Manchmal glaube ich, sie könnte sich für einige Menschen als nützlich, für andere als unterhaltsam erweisen; aber das soll jeder selbst beurteilen. Geschützt durch meine Unbekanntheit, die mittlerweile vergangene Zeit und ein paar erfundene Namen will ich mutig darangehen, dem Leser ganz offen zu schildern, was ich nicht einmal meinem innigsten Freund enthüllen würde.

      Mein Vater war ein Geistlicher aus dem Norden Englands, zu Recht geachtet von allen, die ihn kannten, und lebte in seinen jüngeren Jahren einigermaßen sorgenfrei von den Einkünften, die eine bescheidene Pfarrstelle und ein hübscher kleiner Besitz erbrachten. Meine Mutter, die ihn gegen den Willen ihrer Familie heiratete, war die Tochter eines Gutsherrn und eine intelligente Frau. Umsonst hielt man ihr vor Augen, dass sie im Falle einer Heirat mit dem armen Pfarrer auf ihre Kutsche, ihre Zofe, allen Luxus und alle Herrlichkeiten des Reichtums verzichten müsse, die für sie doch ganz selbstverständlich zum Leben gehörten. Eine Kutsche und eine Zofe waren sicherlich große Annehmlichkeiten, aber Gott sei Dank, besaß sie zwei Füße, die sie trugen, und zwei Hände, mit denen sie für sich selbst sorgen konnte. Ein vornehmes Haus und ausgedehnte Ländereien waren nicht zu verachten; sie aber würde lieber mit Richard Grey in einem kleinen Haus wohnen als mit irgendeinem anderen Mann auf der Welt in einem Palast.

      Als ihr Vater merkte, dass alle Argumente nichts fruchteten, teilte er den Liebenden schließlich mit, sie sollten ruhig heiraten, wenn es ihnen gefiele; in diesem Falle aber verlöre seine Tochter auch den kleinsten Teil ihres Vermögens. Er erwartete, dass sich daraufhin die Leidenschaft der beiden abkühlen würde, aber er irrte. Mein Vater kannte den außergewöhnlichen Wert meiner Mutter zu gut, um sich nicht darüber im Klaren zu sein, dass sie allein schon ein kostbarer Besitz war; und wenn sie nur einwilligen wolle, sein bescheidenes Heim zu verschönern, wäre er glücklich, sie zu heiraten, ganz gleich zu welchen Bedingungen. Sie ihrerseits wollte lieber mit den eigenen Händen arbeiten, als von dem Manne getrennt zu sein, den sie liebte, den glücklich zu machen ihr eine Freude sein würde und mit dem sie schon jetzt eins war in Herz und Seele. So vergrößerte ihr Erbteil das Vermögen einer klügeren Schwester, die einen Krösus geheiratet hatte, während sie sich – zum Erstaunen und mitleidigen Bedauern aller ihrer Bekannten – in dem einfachen Pfarrhaus inmitten der Hügel von –– vergrub. Und doch glaube ich, dass man trotz alledem, trotz des vornehmen Wesens meiner Mutter und den Grillen meines Vaters in ganz England kein glücklicheres Paar finden würde.

      Meine Schwester Mary und ich waren die beiden einzigen von sechs Kindern, die die Gefahren von Säuglingsalter und früher Kindheit überlebten. Da ich fast sechs Jahre jünger war, wurde ich immer als das Kind und der Liebling der Familie angesehen: Vater, Mutter und Schwester verwöhnten mich alle zusammen, nicht durch törichte Nachgiebigkeit, die mich widerspenstig und unbeherrscht gemacht hätte, sondern durch grenzenlose Güte, die mich hilflos und abhängig machte – untauglich, um es mit den Unbilden des Lebens aufzunehmen. Meine Mutter, die zugleich wohlerzogen, höchst gebildet und gerne beschäftigt war, übernahm die ganze Verantwortung für unsere Erziehung, mit Ausnahme von Latein, worin uns mein Vater unterrichtete, so dass wir nicht einmal zur Schule gingen; und da es in der Nachbarschaft sonst keinen Umgang gab, bestand unsere einzige Verbindung zur Welt in einer hin und wieder stattfindenden Tee-Gesellschaft mit den führenden Landwirten und Geschäftsleuten der Umgebung (um zu vermeiden, dass man uns als zu stolz einstufte, mit unseren Nachbarn zu verkehren) und einmal im Jahr einem Besuch bei unserem Großvater väterlicherseits, bei dem dieser, unsere gute Großmama, eine unverheiratete Tante und zwei oder drei ältere Damen und Herren die einzigen Menschen waren, die wir je zu Gesicht bekamen. Manchmal unterhielt uns unsere Mutter mit Geschichten und Anekdoten aus ihrer Mädchenzeit, die uns ungeheuren Spaß bereiteten und – wenigstens in mir – häufig den geheimen Wunsch weckten, ein bisschen mehr von der Welt zu sehen.

      Ich dachte, dass sie sehr glücklich gewesen sein musste; doch sie schien niemals den alten Zeiten nachzutrauern. Mein Vater aber, dessen Gemüt von Natur aus weder besonders gelassen noch heiter war, quälte sich oft übermäßig bei dem Gedanken an die Opfer, die seine liebe Frau ihm gebracht hatte, und zermarterte sich den Kopf, indem er unaufhörlich Pläne schmiedete, wie er um ihret- und unseretwillen sein kleines Vermögen vermehren könnte. Vergebens versicherte ihm meine Mutter, dass sie vollkommen zufrieden sei, und wenn er nur etwas für die Kinder beiseitelegen würde, hätten wir doch reichlich von allem, jetzt und auch in Zukunft; aber Sparen war nicht die starke Seite meines Vaters. Er geriet zwar nicht gerade in Schulden (wenigstens passte meine Mutter gut auf, dass das nicht geschah), aber wenn er Geld hatte, musste er es auch ausgeben; er wollte gern ein behagliches Heim haben, seine Frau und seine Töchter sollten gut gekleidet und ihre Bedienung angemessen sein. Zudem war er barmherziger Natur und spendete gern den Armen, so wie es seinen Mitteln entsprach oder, wie manch einer denken mochte, auch darüber hinaus.

      Schließlich jedoch wies ihm ein wohlmeinender Freund den Weg, wie er seinen Privatbesitz mit einem Schlag verdoppeln, ihn später sogar ins Unermessliche steigern könne. Dieser Freund war Kaufmann, ein Mann mit Unternehmungsgeist und unbestrittenem Talent, der durch einen Mangel an Kapital in seinem geschäftlichen Tatendrang etwas eingeengt war, aber großzügig vorschlug, meinem Vater einen angemessenen Anteil an seinen Gewinnen zukommen zu lassen, wenn dieser ihm nur alles anvertrauen würde, was er erübrigen könne; und wie hoch die ihm anvertraute Summe auch immer sei, er glaubte, sicher versprechen zu können, dass sie meinem Vater einen hundertprozentigen Gewinn brächte. Das bescheidene Erbvermögen wurde umgehend verkauft, der gesamte Gegenwert dem hilfsbereiten Kaufmann überantwortet, der seinerseits unverzüglich daranging, seine Fracht zu verladen und seine Reise vorzubereiten.

      Mein Vater war, wie wir alle, begeistert über unsere vielversprechenden Aussichten. Denn zugegeben, gegenwärtig waren wir gezwungen, von den kargen Einkünften der Pfarrstelle zu leben. Aber mein Vater hielt es anscheinend nicht für nötig, dass sich unsere Ausgaben exakt darauf beschränkten, und so hatten wir durch einen Dauerkredit bei Mr. Jackson, einen weiteren bei Smith und einen dritten bei Hobson sogar ein besseres Auskommen als vorher. Meine Mutter vertrat allerdings die Ansicht, wir sollten im Rahmen unserer Möglichkeiten bleiben, denn letztendlich sei unsere Aussicht


Скачать книгу