Vollmondnacht. Nina Johanna

Vollmondnacht - Nina Johanna


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      Inhalt

       Kapitel 1

       Kapitel 2

       Kapitel 3

       Kapitel 4

       Kapitel 5

Vollmondnacht Prolog

      Seit Anbeginn der Zeit interessierte sich die Menschheit für die hellleuchtende, mystische Scheibe oder Sichel am Himmelszelt, den Mond, und setzte ihn mit mächtigen Gottheiten gleich. Die alten Ägypter beteten zu Isis, der Mondgöttin, die Griechen zu Selene und die Römer zu Luna und Diana. Sie alle stellten die unfassbare Macht des Mondes über das Leben auf der Erde dar. Astronomen und Entdecker erforschten in jedem Jahrhundert mit Hilfe aller möglichen Methoden die unterschiedlichen Phasen, den Zyklus des Mondes, erstellten auf dieser Basis Kalender und entdeckten die verschiedenen Wirkungen auf Mensch, Tier und Natur. Schnell merkten sie, dass das Leben auf unserer Erde mit der Kraft des Mondes eng verbunden ist, dass sich das Verhalten der Menschen an die Phasen des Mondes anpasste und dass die helle, das Sonnenlicht reflektierende Seite des Mondes stets ein dunkles Gegenstück mit sich bringt.

      Vor vielen hunderten Jahren schoss ein mächtiges, kosmisches Gesteinsstück durch das Weltall, direkt auf jene Seite des Mondes zu, die sich der Erde nie zeigte. Mit starker Wucht und einem lautlosen Aufprall streifte der Meteorit die dunkle Seite und sprengte zwei massive, schwarze Stücke des Mondes weg. Diese bewegten sich nun direkt und mit hoher Geschwindigkeit auf den Blauen Planeten zu. Zuerst schossen die Mondstücke durch das endlose Weltall, doch schon bald passierten sie die Atmosphäre, die wie eine schützende Hand über der Erde lag. Etwas kleiner als zuvor und mit deutlich geringerer Geschwindigkeit landete ein Mondgesteinsstück im südlichen Teil des Planeten, das andere eher im Norden. Ein wenig kleiner als die Handfläche eines erwachsenen Menschen, schwarz und voll von kleinen Kratern lagen die Mondsteine nun auf der Erde. Der eine im kalten, weißen Schnee, der andere am Rande eines warmen, plätschernden Flusses. Unscheinbar und eher hässlich sahen sie aus für jedes Auge, das den Wert des Gesteins nicht erkannte. So geschah es auch, dass jahrhundertelang Menschen und Tiere daran vorbeizogen, ohne sie auch nur eines Blickes zu würdigen. Die Teile des Mondes, nun schon vom Wetter gegerbt und von der Zeit des Herumliegens sichtlich mitgenommen, versanken immer tiefer im Erdboden, bis eines Nachts, als der Vollmond die Dunkelheit erhellte, ein Mädchen einen schmalen Fluss entlang spazierte und der Mondstein seine Kräfte wiederfand.

      Fluchend stolperte Tusana das schmale Flussbett entlang, das sich nicht weit von dem Haus ihrer Familie durch die schlafende Landschaft in der Nähe des Dorfes Garciasantos schlängelte. Wieder stieß sie sich ihre nackten Füße an einem harten Stein und stieß einen lauten Fluch aus. Es kümmerte sie nicht, ob sie jemand hörte. Wer sollte sich schon dafür interessieren, was ein junges, 16-jähriges Mädchen wie sie allein in einer Nacht, die nur durch den großen, runden Vollmond erhellt wurde, am Rande des Flusses verloren hatte? Mit einem leisen Geräusch, das sich wie plopp anhörte, rutschte sie mit einem Fuß ins Wasser ab. Sofort spürte sie, wie die kühle Flüssigkeit ihren Fuß umhüllte und der Saum ihres weißen Nachthemds triefend nass wurde. Genervt von ihrer eigenen Tollpatschigkeit nahm sie ihr Nachthemd in die Hand und zog es bis zu ihren Knien hinauf. Ihre dünnen, braunen Waden kamen zum Vorschein, und sie spritze mit dem bereits nassen Fuß im Wasser herum. „Wie siehst du denn schon wieder aus, Tusana? Ganz nass und schmutzig! Wieso kannst du dich nicht wie ein normaler Mensch benehmen? Kein Wunder, dass dich in der Schule niemand leiden kann!“, flüsterte sie mit übertrieben melodischer Stimme vor sich hin und hatte das Bild ihrer Stiefmutter Alba im Kopf. Sie konnte sich bildlich vorstellen, wie sich Albas viel zu schmale Lippen kräuselten, wie sie ihre spitze Nase angeekelt in die Luft hielt und sie mit ihren eisblauen Augen angewidert musterte. Wie sollte sie sich normal verhalten? Nichts an ihr war normal! Ihre Hautfarbe war braun, viel dunkler als die von allen anderen Jugendlichen in der Schule, ihre Augen waren schwarz wie die Nächte, in denen kein Vollmond schien, und ihre Haare waren lang und so blond, dass sie fast schon weiß aussahen. Mit ihren langen, knochigen Fingern strich sie sich eine blonde, wellige Strähne aus dem Gesicht und warf sie mit mehr Schwung als nötig in den Nacken. In Gedanken versunken stieg Tusana nun auch mit dem zweiten Fuß in den Fluss und watete gegen den Strom, immer weiter weg von dem kleinen, von Lichtern erleuchteten Dorf. Ihre Gedanken kreisten um das kleine Haus am anderen Ende des Dorfes, in dem sie mit ihrem Vater, ihrer Stiefmutter und ihren kleinen Halbbrüdern wohnte. Das Haus war aus braunen Ziegeln gebaut und befand sich am Ende eines steinigen Felsweges. Tusanas Vater kaufte es vor sechs Jahren, kurz nach dem Tod seiner Frau, Tusanas Mutter, für sich und seine Tochter. Doch inzwischen, dank ihrer Stiefmutter und den grässlichen Zwillingen, war es für die Anzahl an Personen um einiges zu klein.

      Ihren Vater hatte Tusana schon lange nicht mehr zu Gesicht bekommen, da er in einer entfernten Stadt in einer Bank arbeitete. Nur an wenigen Wochenenden und an bestimmten Feiertagen kam er nach Hause. Jedes Mal, wenn er das Haus betrat, knallte er seinen schweren ledernen Aktenkoffer neben die Haustür, fuhr sich durch seine schwarzen Haare, die immer wild von seinem Kopf abstanden, und verzog sich sogleich in das kleine Arbeitszimmer am Ende des Flurs. Tusana wagte es nur selten, ihren Vater in seinem Arbeitszimmer zu besuchen, weil sie wusste, dass er stets sehr beschäftigt war und sich für nichts und niemanden so sehr begeisterte wie für seine Bankgeschäfte. „Meine Arbeit ist unheimlich wichtig! Ich muss Statistiken berechnen, Verträge aufsetzen und Zukunftspläne schmieden! Glaubst du, ich komme nach Hause, um mir deine Geschichten anzuhören? Kümmere dich selbst um deine Probleme! Und jetzt geh, spiel mit deinen Brüdern! Ich muss noch einen Bericht fertig schreiben. Schließ die Tür hinter dir!“

      Bei dem Gedanken an ihre beiden Halbbrüder verzog Tusana das Gesicht. Gabriel und Rafael, zweieiige Zwillinge. Das Herzstück ihrer Mutter. Garstige kleine Quälgeister mit schwarzen Locken, teuflischen blauen Augen und viel zu viel Fleisch auf den Knochen. Egal, welche Dummheiten ihnen einfielen, Tusana zu ärgern, ihre Stiefmutter kümmerte es nicht! „Meine süßen Engelchen würden so etwas nie tun! Geh und schließ die Tür! Ich will mir deinen Unsinn nicht mehr länger anhören!“ Diese Worte hatte Tusana auch jetzt noch im Kopf. In ihrem bisherigen, von Schreck und Grausamkeiten geprägten Leben, war ihre Stiefmutter Alba eindeutig das Sahnehäubchen auf dem Kuchen. Tusana wusste, dass Alba sie nicht leiden konnte und sie in „ihrem Haus“, wie sie es nur zu gern betitelte, sehr ungern erduldete. Wie sollte sie es auch nicht wissen? Alba ließ sie es bei jeder Gelegenheit spüren. „Du hattest auch Hunger? Das wusste ich nicht! Gabriel und Rafael haben leider schon alles aufgegessen! Köstlich war‘s, nicht wahr, meine Engelchen? Du kannst dir ja ein Butterbrot nehmen!“, sagte Alba nicht nur einmal, während sie die dicken Bäuche ihrer Söhne mit Eis, Kuchen und allem Möglichen, was sie begehrten, vollstopfte.

      Tusana hatte es satt! Voller Wut trat sie einen kleinen Stein durchs Wasser. Er flog nicht weit und landete mit einem leisen Geräusch wieder im Fluss. Tusanas Hände, die immer noch das nasse Nachthemd hielten, verkrampften sich bei dem Gedanken an den heutigen Abend. Ihre Stiefmutter saß wie immer mit ihren beiden Lieblingen am Esstisch und servierte alle möglichen Köstlichkeiten. Das ganze Haus roch himmlisch nach Cordero en chilindrón, einem Gericht aus Lammfleisch und einer Zwiebelsauce mit Paprika und Tomaten. Als Tusana aus ihrem Zimmer kam, die kurze Treppe hinunterschlich und das Esszimmer betrat, knurrte ihr Magen vor Hunger. Alba würdigte sie keines Blickes, verzog nur einen Mundwinkel und sagte: „Du bist auch hier? Hast du nichts zu lernen?“

      „O ja, sehr viel sogar. Aber ich brauche deine Hilfe mit diesem Buch, ich verstehe den Zyklus des…“, sagte sie kleinlaut, doch weiter kam sie nicht, da wurde sie schon von ihrer Stiefmutter unterbrochen. „Bin ich deine Lehrerin, dass ich dir bei deinen Aufgaben helfen soll? Bestimmt nicht! Ja, Schätzchen, hier ist noch etwas Fleisch für dich“, sagte sie liebevoll zu Gabriel, der mit seiner Gabel auf den leer gegessenen Teller schlug. Nachdem Alba ihrem Sohn eine riesige Portion auf den Teller gelegt hatte, fuhr sie fort: „Frag doch deine Freundinnen, ob sie dir bei der Hausübung helfen können! Oh, das habe ich vergessen,


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