Seit ich dich kenne .... Jascha Alena Nell

Seit ich dich kenne ... - Jascha Alena Nell


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wirklich so oft Schnee gäbe. Ich malte mit ihnen Schneemänner und erzählte ihnen von wilden Schlittenfahrten, vom Ski- und Snowboardfahren und vom kalten deutschen Winter, ich brachte ihnen ein Gedicht über Schneeflocken bei, im Gegenzug vertrauten sie mir immer öfter ihre Lebensgeschichten an. Viele waren so hart, dass ich meine Tränen nicht immer zurückhalten konnte. Von Schlägen über Vernachlässigung bis hin zu sexuellem Missbrauch war alles dabei.

      Robert, mein österreichischer Betreuer vor Ort, und Tayo, Mitarbeiter des Projekts und mein erster Ansprechpartner, boten mir stets eine starke Schulter und ein offenes Ohr, wann immer ich ihnen das Leid klagen wollte, das diesen armen, unschuldigen Kindern widerfahren war.

      Tayo und ich verstanden uns besonders gut, zu ihm baute ich eine sehr enge Beziehung auf in diesem halben Jahr, das ich in Südafrika verbrachte. Sein Name bedeutete übersetzt der Glückliche oder geboren, um glücklich zu sein, und auf meinen Tayo traf das haargenau zu. Es gab keinen Tag, an dem ich ihn nicht strahlen sah, an dem das Lebensglück ihm nicht aus den Augen leuchtete, an dem er nicht sprühte vor Energie, Gesundheit und Kraft. Tayo war bald schon mein engster Vertrauter, mein bester Freund. Vielleicht hatte ich mich sogar ein bisschen in ihn verliebt, doch ich gestand ihm nie meine Gefühle.

      Tayo war schon 25, groß gewachsen, schlaksig, mit schmalen Hüften und Schultern. Er trug immer jede Menge Ketten, bestehend aus Muscheln oder Steinen, und Armschmuck aus bunten, geflochtenen Bändern.

      Recht bald bat mich eine Mitarbeiterin des Kinderheims namens Jala, was übersetzt die Glänzende oder die Besondere hieß und ebenfalls zutraf, darum, mein „tolles, feuerrotes Haar“ flechten zu dürfen, und da es mir ohnehin ständig im Weg umging und ich meine Haargummis andauernd verlor, stimmte ich zu. Sie flocht mein Haar zu Tausenden kleinen Zöpfen und befestigte sie mit kleinen Gummis, die sich nur schwer wieder aus den Haaren ziehen ließen.

      Ich wurde von den Heimkindern reich beschenkt, jeden Tag erhielt ich eine andere Kette, Armbänder in Massen, sogar Ohrringe. Wir kuschelten viel oder ich las ihnen vor, half ihnen bei den Hausaufgaben, dachte mir Spiele aus. Wir bemalten uns gegenseitig mit Fingerfarben, gründeten eine Trommler- und Gitarrengruppe, jeden Abend machte ich mit ein paar Kindern einen Abstecher hinunter zum Strand, genauer gesagt zum Boulders Beach, an dem man Brillenpinguine beobachten konnte, wenn man sich nur geduldete und stillhielt.

      „Wisst ihr, was das Tolle an Pinguinpärchen ist?“ Ich streichelte einem kleinen Jungen mit schwarzen Wuschellocken durchs Haar. „Sie trennen sich niemals. Wenn sie einmal einen Partner gefunden haben, bleiben sie ein Leben lang zusammen.“

      „Das will ich auch mal“, rief ein kleines Mädchen und klammerte sich an meinem Arm fest.

      Und ein älterer Junge von zwölf Jahren fragte mich bittend: „Edda, willst du mein Pinguin sein?“

      Es gab massenhaft schöne Erlebnisse in dieser Zeit ‒ Safaris, Schlafen unter freiem Himmel, Essenseinladungen, bei denen ich mit landestypischen Spezialitäten überhäuft wurde, Ausflüge in andere Städte, Discobesuche, Wanderungen zum Tafelberg, Strandspaziergänge im charmanten Camps Bay, Besuche in den Weinbergen und, und, und.

      Als in Deutschland der Winter begann, hatten wir in Südafrika Höchsttemperaturen. An Weihnachten ging ich mit der ganzen Rasselbande schwimmen, wir bauten Sandburgen und vergruben einander im heißen Sand, ehe die traditionelle Weihnachtsfeier begann. An Silvester feierte ich mit Scharen von Menschen an der Waterfront, wir grillten und stießen mit Sekt auf das neue Jahr 2003 an und auf alles, was es bringen mochte.

      Als ich im Februar abflog, flossen nicht nur bei mir dicke Tränen. Tayo und Jala versprachen, mich auf jeden Fall auf dem Laufenden zu halten, wir würden uns Briefe schreiben und einander niemals vergessen. Und ja, wir würden uns ganz, ganz bald wiedersehen. Ich hatte fest vor, Südafrika in den nächsten Jahren auf jeden Fall wieder einen Besuch abzustatten, nicht umsonst war es als das schönste Ende der Welt bekannt, und wer einmal dort war, wollte nie wieder weg. bvbbbbbbbbbbbbbb

      In diesem halben Jahr hatte ich kaum an Timo gedacht, all das Neue, Aufregende hatte mich völlig in den Bann gezogen. Außerdem war ich von morgens bis abends mit den Kindern zusammen gewesen, an den Wochenenden hatte ich mir von Tayo oder Jala Kapstadt zeigen lassen, einmal waren wir sogar am Donnerstag nach Johannesburg gefahren und erst am Sonntagabend heimgekehrt. Es waren tolle Tage gewesen, denn auch Johannesburg war eine beeindruckende Stadt.

      Für mich war es weiter nach Neuseeland gegangen, wo ich mich fünf Monate lang mit Work-and-Travel durchschlug. Zuvor war ich, mal abgesehen von Klassenfahrten und einer recht aufregenden Jugendreise mit Kim, noch nie ohne meine Eltern unterwegs gewesen, geschweige denn ganz allein, deshalb schlug mir das Herz auch bis zum Hals, als ich, diesmal ohne Projektleiter, auf mich allein gestellt am Flughafen stand und weder aus noch ein wusste. Doch ich sagte mir, dass ich alles schaffte, wenn ich es nur genug wollte.

      Heute konnte ich sagen, dass es eine unglaublich wertvolle Erfahrung gewesen war, die ich um nichts auf der Welt missen wollte und die mir geholfen hatte zu reifen, zu wachsen. Sie hatte mich selbstständiger und selbstbewusster gemacht, lebenserfahrener. Ich wusste, wie es war, auf eigenen Beinen zu stehen, für sich selbst zu sorgen, sich durchzuschlagen.

      Ich arbeitete und reiste sehr viel. Mal jobbte ich für zwei Wochen in einem Hotel an der Rezeption, mal half ich in einem Restaurant als Kellnerin aus. Ich pflückte Mangos und ließ mich dabei von der Sonne verbrennen, ich hütete Kinder, erledigte den Haushalt, ich ging für ein altes Pärchen regelmäßig einkaufen, das mich anstatt mit Geld mit Schokolade bezahlte.

      Ich fuhr per Anhalter, anfangs voller Angst, mir könnten unsägliche Dinge zustoßen, dann begegnete ich Philipp und Miriam, einem Paar aus Duisburg, das ebenfalls durch Neuseeland reiste. Wir taten uns zusammen, mit ihnen gelangte ich unbeschwert von Ort zu Ort. Die beiden traten manchmal als Zauberkünstler auf und brachten mir eine Menge cooler Tricks bei, die ich anwendete, um damit Geld zu verdienen.

      Die Kiwis an sich, wie Neuseeländer auch genannt wurden, waren tolle Menschen. Freundlich und bodenständig, sehr umgänglich und offen für neue Bekanntschaften. Außerdem hatte dieses Land eine Wahnsinnskultur, eine Mischung aus Maori-Traditionen sowie europäischen, pazifischen und asiatischen Einflüssen. Sie kennenzulernen und zu erleben, war ein einzigartiges Erlebnis.

      Auch die Landschaft Neuseelands ließ jedes Abenteurer- und Naturfreundherz höher schlagen. Es gab eigentlich nichts, das es nicht gab. Vulkane, die wahrhaftig Feuer ausstießen. Tiefe Fjorde. Schneebedeckte Berge. Alte Wälder. Gletscher bis fast auf Meereshöhe. Ein Naturspektakel jagte das nächste, ich konnte mich kaum sattsehen.

      Einer meiner größten Wünsche war es schon immer gewesen, mal das Bungeejumping auszuprobieren. Da ich dieses verrückte Jahr, in dem ich alle Möglichkeiten hatte, voll auskosten wollte, sprang ich tatsächlich von einer Brücke. Einmal tauchte ich dabei ins Wasser ein, und als ich wie ein Flummi wieder nach oben hüpfte, kreischte ich vor Begeisterung und Freude. Adrenalin jagte durch meinen Körper, es kribbelte überall und ich spürte das Leben so deutlich und intensiv, dass es mir die Tränen in die Augen trieb. So musste sich das Leben anfühlen ‒ Kribbeln auf der Haut, Prickeln im Kopf und der Wunsch, vor Glück und Freude laut zu schreien.

      Zu meiner Schande musste ich einräumen, dass ich auch in dieser Zeit so gut wie nie an Timo dachte ‒ es war einfach immer zu viel los, Körper, Seele und Geist waren rund um die Uhr damit beschäftigt, zu verarbeiten und abzuspeichern, was ich erlebt hatte. Hin und wieder tauchte er in meinen Träumen auf, doch zu meinem großen Schreck konnte ich mich nicht mehr genau an seine Gesichtszüge erinnern, an die Farbe seiner Augen oder den Klang seiner Stimme. Und das, obwohl wir uns seit neun Jahren kannten und seit zwei Jahren ein Paar waren. Die Erinnerungen an Timo waren irgendwo tief in meinem Inneren begraben, verschüttet von all dem Neuen. Mit dem Telefonieren war es schwierig, denn aufgrund der Zeitverschiebung, leerer Akkus oder nicht vorhandenen Guthabens auf der Karte sowie Funklöchern gestaltete sich die Kommunikation schwierig. Manchmal wenn ich in stillen Nächten am Strand von Südafrika saß und die Milliarden Sterne bewunderte oder im Zelt in Neuseeland lag und den Geräuschen draußen lauschte, fragte ich mich, ob ich ihn überhaupt noch liebte. War es denn wirklich Liebe, wenn man vergaß, an


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