Seit ich dich kenne .... Jascha Alena Nell
vor zwei Wochen erhalten, seitdem hatte sich nichts mehr getan und ich wartete ungeduldig auf Neuigkeiten.
Das Reisen fehlte mir wahnsinnig, ich vermisste es, jeden Tag Neues zu entdecken, neue Leute kennenzulernen, einfach in den Tag hineinzuleben. Ich hatte mich noch nicht wieder ganz an das normale Alltagsleben gewöhnt, manchmal langweilte ich mich entsetzlich und versank in Tagträumen, die mich direkt vom Kindergarten oder von meinem Zimmer aus auf eine Insel irgendwo in der Karibik oder in eine aufregende Großstadt irgendwo in Europa brachten.
Das Kindergartenpraktikum machte ich zum einen, weil ich Erfahrungen in Sachen Kinderpflege und -betreuung brauchte, um den Au-pair-Job antreten zu können, zum anderen des Geldes wegen. Und natürlich wollte ich nicht das ganze Jahr untätig zu Hause herumsitzen und Löcher in die Decke starren. Außerdem hatte ich über das Gespräch mit Chris nachgedacht, das wir in Barcelona am Strand geführt hatten, dass ich die Welt zu einem besseren Ort machen wollte. Da war es doch am besten, wenn ich bei den Wurzeln anfing, in dem Fall bei den Kindern. Auf sie hatte ich noch Einfluss, ihnen konnte ich beibringen, was richtig und was falsch war, sie konnte ich lehren, dass man andere Menschen nicht schlagen oder beißen durfte, und ich konnte ihnen Liebe und Zuneigung geben und ihnen zeigen, dass mit ihrer Hilfe und der richtigen Einstellung die Welt ein schönerer, besserer, gerechterer Ort werden konnte.
„Das hast du dir ja fein ausgedacht“, hatte Chris bei einem unserer Telefonate scherzhaft gesagt, „wälzt die ganze Verantwortung auf die Nachkommen ab und kannst später behaupten, es wäre dein Verdienst, dass es so viele kleine Retter auf der Welt gibt.“
Obwohl er es nicht böse gemeint hatte, fühlte ich mich geohrfeigt und ging auf ihn los. Manchmal trieb er mich mit seiner großen Klappe wirklich zur Weißglut. „Im Übrigen ist jedes Kind, das keine Ringelnatter tottritt, eine Bereicherung für die Welt“, beendete ich schließlich meine Schimpftirade. „Rettest du nur ein Leben, rettest du die ganze Welt. Sagt man so.“
„Ja, ja, ist schon gut“, sagte Chris beschwichtigend und seufzte. „Meine Güte, du bist vielleicht launisch. Eigentlich wollte ich dir erzählen, dass ich gerade bei einer Kampagne gegen Pelz mitgemacht habe. Der Slogan lautet: Natürlich schön ‒ trag deine eigene Haut! Was sagst du, das ist doch auch ’ne Heldentat, oder? Vielleicht denken ein paar Menschen mal drüber nach, wenn sie mich quasi als Vorbild über den Bildschirm flimmern sehen.“
„Ja, ganz bestimmt“, meinte ich ironisch. „Die zwei Minuten zwischen der Hundefutterwerbung und der Sexszene im Abendprogramm bleiben bestimmt im Gedächtnis der Leute haften.“
„So, du Stubenhockerin, mich würde jetzt eher mal interessieren, was du heute Abend so machst“, riss Kim mich aus meinen Gedanken und katapultierte mich ins Hier und Jetzt zurück. „Wie sieht’s aus, gehst du auch aus?“
„Ja, tue ich tatsächlich. Ich gehe ins Kino“, erzählte ich und kam mir albern vor, weil ich tatsächlich stolz darauf war, dass ich an einem Freitagabend mal nicht zu Hause herumgammeln würde.
„Echt? Super. Mit wem, in welchen Film?“
„Mit Marlene, das ist eine Kollegin aus dem Kindergarten, wir wollen uns Fluch der Karibik ansehen.“
„Oh, cool, der Film ist richtig super, da war ich letzte Woche mit Annika und Vivien drin. Captain Jack Sparrow wird von Johnny Depp gespielt, der ist so was von heiß. Und Orlando Bloom ist ...“
„Stopp!“, unterbrach ich sie aufgeregt. „Nun verrate doch nicht alles, wo bleibt denn sonst die Spannung? Im Übrigen weiß ich, dass Johnny Depp den Captain spielt, und Orlando Bloom heißt Will Turner und schmiedet Schwerter, wenn ich das im Kinoprogramm richtig gelesen habe.“
„Hast du“, antwortete Kim zufrieden, „ich wünsche dir viel Spaß, Süße. Der Film ist der Hammer!“
Einen Moment lang schwiegen wir, ich warf einen kurzen Blick durch das Fensterviereck in der Tür, um zu sehen, ob Marlenes roter Opel schon in der Einfahrt stand, doch sie war noch nicht in Sicht.
„Hast du mal wieder was von Timo gehört?“, wollte Kim vorsichtig wissen.
Ich seufzte leise. Timo und ich hatten uns kurz nach meiner Rückkehr einvernehmlich getrennt und beschlossen, Freunde zu bleiben. Es war eine sehr friedliche, erwachsene Trennung gewesen, ohne viel Drama. Zum Abschied hatten wir uns ein letztes Mal geküsst und einander ganz fest gehalten. Zu Hause waren mir dann die Tränen gekommen und ich hatte den ganzen restlichen Tag geweint, weil es sich doch irgendwie seltsam anfühlte, Schluss zu machen, zumal mit einem Menschen, den ich so sehr liebte wie Timo. Auf freundschaftlicher Ebene.
Er hatte mir an jenem Abend, als ich zum ersten Mal mit Chris unterwegs gewesen war, eine SMS geschrieben. Er hatte bekundet, dass ihm unser Streit leidtäte und er sich wie ein absolutes Arschloch verhalten hätte. Und dass er mich natürlich nicht betrogen hätte. Zumindest nicht wirklich. Er gab zu, mit einem anderen Mädchen herumgeknutscht zu haben, schwor aber hoch und heilig, dass er nicht mit ihr im Bett gewesen sei, und meinte, wir sollten in Ruhe darüber reden, wenn wir beide wieder in Köln wären.
Die Tatsache, dass er eine andere geküsst hatte, tat weniger weh als erwartet. Es versetzte mir lediglich einen leichten Stich ins Herz, dieser Vertrauensbruch machte mir zwar schwer zu schaffen, rief aber keinen unerträglichen Schmerz oder kochende Wut in mir hervor. Ich empfand nur eine große Erschöpfung in diesem Moment.
Die restlichen zwei Wochen in Barcelona verbrachte ich, wann immer es mir möglich war, mit Chris, ganz ohne schlechtes Gewissen gegenüber Timo.
Chris hatte den Job bei dem Sportmagazin leider nicht bekommen, aber er war auch nicht von seinem Agenten gefeuert worden. Es war, wie ich gesagt hatte, die Anstrengung und der Wille zählten. Joachim, der Agent, rief Chris an und teilte ihm mit, dass er stolz auf ihn sei, weil er endlich erkannt habe, worum es wirklich ginge. Offenbar hatte er von der Jury des Sportmagazins gutes Feedback bekommen.
Die Zeit mit Chris war etwas ganz Besonderes für mich, sie war geprägt von Spaß, abenteuerlichen Touren quer durch die Stadt und einer Menge Unsinn. Die zwei Wochen rasten vorüber und dann wurde es Zeit, Abschied zu nehmen ‒ von der Stadt und meinem neuen Kumpel. Wieder mal flossen bei mir Tränen. Es fiel mir schwer, ihn gehen zu lassen, denn wir hatten quasi jede freie Minute zusammen verbracht in den letzten vierzehn Tagen. Chris war mir ans Herz gewachsen, ich vermisste ihn schmerzlich. Mit ihm verstrich ein Tag so schnell wie eine Minute. Ein Wimpernschlag und der Tag war um.
„Nein“, beantwortete ich Kims Frage, „seit der Trennung nicht mehr. Das war vor sieben Wochen. Wir wollten Freunde bleiben, aber irgendwie gehen wir jetzt beide auf Abstand. Ist vielleicht vorerst besser so. So wird keiner von uns verletzt.“
„Liebst du ihn denn noch?“, fragte sie einfühlsam.
„Ein Teil von mir wird ihn immer lieben und ich liebe ihn als Freund“, erklärte ich. „Ich vermisse ihn als Freund. Wir haben früher viel zusammen unternommen, er konnte mich immer zum Lachen bringen.“
Bei mir dachte ich, dass nun Chris derjenige war, der mich zum Lachen brachte, doch ich sprach es nicht laut aus. Es hätte sich angehört, als hätte ich Timo ersetzt.
„Vielleicht solltest du euch beiden ein wenig Zeit geben, euch an die neue Situation zu gewöhnen“, meinte Kim nachdenklich. „Ich meine, es ist ja auch kompliziert bei euch. Erst wart ihr jahrelang Freunde, dann zwei Jahre ein Paar, ein Jahr davon habt ihr euch gar nicht gesehen ... Ich glaube, keine Beziehung hätte das verkraftet.“
„Doch“, dachte ich resigniert, „wenn es die wahre Liebe gewesen wäre.“
„Wahrscheinlich hast du recht“, meinte ich.
„Na ja“, Kim wechselte das Thema, „wie sieht’s eigentlich mit dem Sexy Boy aus, kommt Chris dich nun besuchen oder nicht?“
Ich fing automatisch an zu strahlen, fast zerriss mir das Gesicht. „Hm, ja. In zwei Wochen ist er wegen eines Shootings hier in Köln und dann werden wir uns sicher mal über den Weg laufen.“
„Ja,