Grundlagen des Methodischen Handelns in der Sozialen Arbeit. Franz Stimmer

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8.2) sinnvoll ist. Nach den ersten noch ungeordneten und eher zufälligen Informationen zur Situation der Klienten, die häufig eine Vielzahl von Aspekten – meist auch eindeutige Sachfragen – beinhaltet, muss die Komplexität der Eindrücke strukturierend reduziert werden, um überhaupt weiter handlungsfähig zu bleiben. Unabdingbar dafür sind formalisiertere Vorgehensweisen wie sie in den unterschiedlichen Verfahren der Situationsanalyse zur Verfügung stehen, die den Einstieg in den zirkulären Problemlösungsprozess signalisieren.

      Die Datensammlung im Erstgespräch ergibt u. U. eine Fülle von Informationen von hoher – oft verwirrender – Komplexität, die in den nächsten Schritten über Analyseverfahren schwerpunktmäßig (image Kap. 5) reduziert werden muss.

      Das folgende Beispiel macht abschließend deutlich, wie komplex eine solche Situation – in der ersten Doppelstunde erhoben – sein kann:

      Hilfe, worum – oder um wen – geht es eigentlich?

      Vorgeschichte: Frau König (43 Jahre), Hausfrau mit zusätzlichen Putzstellen, kommt mit ihrem Pflegesohn Steffen (10 Jahre) zum Hausarzt, weil Steffen seit einiger Zeit »ständig« unter Kopfschmerzen leidet und deswegen auch häufig nicht zum Unterricht geht. Steffen, der seit 6 Jahren bei der Familie König lebt, »zappelt« bei der Untersuchung ständig herum, Fragen des Arztes beantwortet die Pflegmutter, die er »Mama« nennt, er selbst bleibt stumm. Der Arzt findet bei seiner Untersuchung »körperlich nichts«, spricht von »Hyperaktivität« und empfiehlt der Mutter, sie möge doch – am besten mit Hilfe des Jugendamtes – eine Beratungsstelle oder einen Psychotherapeuten aufsuchen.

      In der Erziehungsberatungsstelle – die Adresse hat sie von einer Freundin erfahren – zu der Frau König zunächst ohne Steffen geht, macht sie ihrem Herzen Luft: Aufgrund von »Teilleistungsstörungen« besucht Steffen eine Förderschule, in der er sich überhaupt nicht wohl fühlt. Er lügt und stiehlt, versteckt Sachen, die ihm nicht gehören, in seinem Zimmer, uriniert in den Kleiderschrank, es ist ganz einfach schlimm mit ihm. Zur leiblichen Mutter, die »verrückt« sei und oft in der Klinik ist, besteht kein Kontakt, vom Jugendamt – »von dieser blöden, siebengescheiten Sozialarbeiterin« – bekommt sie auch keine richtige Unterstützung, von ihrem Mann schon gar nicht. Überhaupt sei es schwierig für sie: Der 22-jährige Sohn Gerd, der ausbildungs- und arbeitslos ist, wohnt immer noch bei ihnen, raucht den ganzen Tag und sitzt nächtelang vor dem Computer. Jetzt hat er wenigstens den Hauptschulabschluss (»mit sehr guten Noten!«) nachgeholt, aber eine Lehrstelle hat er immer noch nicht. Nachts treibt er sich herum, wo weiß sie nicht, des Öfteren hat er auch schon mit der Polizei zu tun gehabt, wegen (»kleiner«) Schlägereien. Der Sohn Dennis (16 Jahre) ist adoptiert, weiß dies aber nicht. Da sein leiblicher Vater wahrscheinlich Kubaner ist, ist er dunkelhäutiger als seine Klassenkameraden. Er findet die Schule – von der Realschule, für die er keine Empfehlung hatte, musste er auf die Hauptschule zurück – nur noch »Scheiße«, »gammelt« mit Gleichaltrigen und »macht« seine 12-jährige Schwester Anne »an«. Zudem habe sie unter seinem Bett Pornohefte entdeckt und auch einige brutale Pornofilme – im Schrank versteckt – beim Aufräumen gefunden. Sie befürchtet, dass ihr Sohn sich alles verbauen würde und vielleicht sogar zum Vergewaltiger werden könnte. Ihr Mann Gerd »senior« (wie er sich gerne selbst nennt), 45 Jahre, Hausmeister in einem großen Betrieb, findet ihre Ängste »einfach nur lächerlich«. Im Alter von Gerd wäre er genau so gewesen und dennoch nicht kriminell geworden. Frau S. glaubt, dass er fremdgeht, weil er sie kaum mehr beachtet, er habe sich überhaupt sehr verändert, »schmust« mit Anne rum, während sie gemeinsam im Fernsehen Filme anschauen. Auch trinkt er in letzter Zeit – vielleicht seit einem 1 Jahr – auffällig mehr, so dass er einige Male schon recht betrunken und dabei auch aggressiv war: »Er hat einfach alle Gläser vom Tisch gewischt, aber geschlagen hat er mich noch nie!« Was er beruflich eigentlich macht, darüber spricht er gar nicht mit ihr. Manchmal kommt er aber sehr müde nach Hause. Gemeinsam zur Beratung zu gehen habe er vehement abgelehnt, da ihm »so ein Psychoquatsch am Arsch vorbei« gehe.

      Alle haben sich von ihr zurückgezogen. Ihr Mann hält sich aus allem heraus, wenn dann schimpft er nur herum. Zu Steffen ist er zudem ungerecht, manchmal hat er ihn auch schon geschlagen, aber »nur leicht!«. Sie berichtet, dass ihr Mann eine sehr schwere Kindheit gehabt hätte, dass er – soweit sie das über ihren Schwager erfahren hätte – wohl auch häufig von seinem Vater verprügelt wurde. Eine höhere Schule durfte er nicht besuchen, da bei ihm sowieso »Hopfen und Malz« verloren sei. Sie selbst sei dagegen »wohlbehütet« aufgewachsen. Nach dem Abitur wollte sie studieren, habe dann aber schon ihren jetzigen Mann kennen gelernt und sei schnell schwanger geworden. Da aber ihr Mann noch in der Ausbildung zum Elektriker war, habe sie – eigentlich gegen ihren Willen – das Kind, von dem sie heute noch träumt und über das sie heute noch weint, »wegmachen lassen«. Später habe sie dann ihren Mann geheiratet. Gleich nach der Geburt von Anne sei sie »sehr traurig« geworden. Der Arzt habe ihr dann irgendwelche Medikamente gegeben, die haben aber auch nicht viel gebracht, ihr sei einfach nur »schwummerig« geworden, dann war alles nur noch schlimmer. Ihr Mann meinte, sie solle sich »zusammenreißen« und sich »nicht so gehen lassen«. Früher seien die Frauen nach der Geburt auch »gleich wieder in den Kuhstall gegangen«.

      Das ganze Haus ist »voller Viecher«, die Dennis vom Vater bekommt: Schlangen, Katzen, Hunde, Hamster … Das Saubermachen bleibt aber meistens ihr überlassen. Am Sonntag ist sie oft auch noch als Tagesmutter tätig.

      Nachdem Frau König sich »Luft gemacht« hat, spricht die Beraterin, eine junge Sozialpädagogin Anfang 30 mit einer Zusatzausbildung in »Klientenzentrierter Beratung« nach Rogers, zunächst noch das Thema »Förderschule« an. Dabei wird deutlich, dass es Frau König »erst einmal reicht«, dass sie »aber bestimmt« zum nächsten Termin wiederkommen will. Zur Strukturierung der Fülle von Informationen bieten sich hier Verfahren der Netzwerkanalyse (image Kap. 5.5), vor allem zunächst die der Beziehungs- und Rollennetzwerke, an.

      Nach dem Erstkontakt, dem Erstgespräch und dem Kontrakt für eine weitere gemeinsame Arbeit folgt der Einstieg in den eigentlichen zirkulären Problemlösungsprozess mit der ersten Phase der erweiterten und strukturierteren Informationssammlung bzw. mit der damit zusammenhängenden Situationsanalyse.

      Zur Informationssammlung stehen zunächst grundsätzlich einige allgemeine qualitative Verfahren soziologischer Forschungsmethoden der Datenbildung wie Protokollieren, teilnehmende Beobachtung und offene Interviews (narrative Interviews) zur Verfügung, die eine umfassende Informationssammlung von u. U. hoher Komplexität ermöglichen, die, um handlungsfähig zu bleiben, wieder reduziert werden muss. Wenn in der Forschung die Frage nach der Validität der qualitativen Verfahren Sinn machen kann, im zirkulären methodischen Handeln sind sie zweitrangig, da alle Erkenntnisse schon – zumindest idealtypisch – im weiteren Verlauf in einem stets auch evaluativen Prozess immer wieder hinterfragt werden. Dadurch verdichten sich die einzelnen Elemente zu einem tragfähigen und erkenntnisreichen Insgesamt – immer unter dem Vorbehalt der Wahrscheinlichkeit, wenn gar der Kontingenz. Je nach Handlungsfeld können die erwähnten qualitativen Verfahren in unterschiedlicher Weise Anwendung finden, in manchen sind sie unangebracht. Wenn ein Mensch halbverhungert unter der Brücke liegt, sind dreistündige narrative Interviews, tiefenpsychologische Verfahren oder Fragen wie »Was macht das jetzt mit Ihnen?« natürlich lächerlich. Anders ist es jedoch, wenn beispielsweise eine längerfristig angelegte Beratung eines suchtkranken Menschen geplant ist.

      Zu den eruierenden qualitativen Verfahren gehört besonders das »Narrative Interview« (Schütze 1983) bzw. dessen Weiterentwicklung für den Bereich der Sozialen Arbeit als »Biographisch-narrative Gesprächsführung « (Rosenthal u. a. 2006 und Völzke 2005), über die KlientInnen anhand einer spezifischen Struktur angeregt werden, stegreifartig über ihr Leben zu erzählen (image


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