Von Versailles bis Potsdam. André François-Poncet
dem für sie nichts Gutes zu erwarten war. Ihr Realismus, nicht weniger tief verwurzelt als ihr Idealismus, ließ sie begreifen, dass sie sich mit Unrecht noch länger in diese europäischen Streitigkeiten einmischten, die so verwickelt und sinnlos waren. Sie schätzten es auch nicht, dass ihr Präsident sich so lange von Washington entfernt hielt und sich bei den Pariser Friedensverhandlungen nicht von geeigneten Vertretern des Senats begleiten ließ. Und ihre »boys« waren nicht allzu sehr mit dem Empfang zufrieden, den man ihnen bereitet hatte. Sie beklagten sich, man habe sie ausgebeutet, und verlangten, unverzüglich in die Heimat zurückbefördert zu werden. Schließlich gab es auch in den Vereinigten Staaten 30 Millionen Deutschamerikaner, die nicht müde wurden, Nachsicht für die unglücklichen Deutschen, Hilfe in ihrem Elend und Versöhnung mit ihnen zu predigen.
Die Ereignisse jenseits des Rheins blieben nicht ohne Einfluss auf die Atmosphäre der Konferenz. Die Angelsachsen verdächtigten die Franzosen, heimlich die an verschiedenen Stellen des Reichs auftretenden partikularistischen und separatistischen Bewegungen zu begünstigen. Sie nahmen daran Anstoß; denn sie waren der Meinung, es sei vorteilhaft, einem geeinten Deutschland gegenüberzustehen, dessen Regierung durch ihre Stabilität die Übernahme und Ausführung vertraglicher Verpflichtungen verbürgte. Aber ihre Verdächtigungen waren unbegründet und ungerecht. Weder Clemenceau noch Tardien dachten jemals daran, die partikularistische Agitation zu begünstigen. Zu einer Zeit, da es so viele Gründe gab, entgegengesetzter Auffassung zu sein, waren die beiden der Ansicht, es sei ungeschickt und vergeblich, sich der Strömung, die immer stärkerer Vereinheitlichung zutrieb, zu widersetzen. Tardieu rühmt sich dessen in seinem Buch über den Frieden, und der »Tiger« zögerte keinen Augenblick, General Mangin abzuberufen, als dieser zur Zielscheibe englischer und amerikanischer Angriffe wurde und man ihm vorwarf, zu sehr an den separatistischen Bestrebungen Dr. Dortens Anteil zu nehmen. Dagegen waren die Angelsachsen von starker Furcht erfüllt vor dem Bolschewismus und der Ausbreitung des Spartakismus in Deutschland. Sie befürchteten, dass ein Einverständnis Deutschlands mit Russland Mittel- und Westeuropa der Gefahr kommunistischer Ansteckung aussetzte. Deshalb empfanden sie eine gewisse Sympathie für die Bemühungen der deutschen demokratischen Regierung, die Revolution abzuwürgen. Sie wünschten, Deutschland nicht allzu sehr durch drakonische Forderungen zu bedrücken, ihm die Unterzeichnung des Vertrages nicht unmöglich zu machen und es nicht ins Chaos zurücksinken zu lassen. Die Franzosen räumten ein, derartige Bedenken seien nicht gegenstandslos. Aber sie ließen nicht zu, dass Deutschland unter dem Vorwand des Systemwechsels und der Einführung der republikanischen Staatsform sich auch nur im geringsten Maße der Verpflichtung entzöge, den Alliierten, besonders aber Frankreich, die Genugtuung zu geben, auf die sie berechtigten Anspruch hatten.
In der Geschichte der Friedenskonferenz traten zwei besonders kritische Augenblicke ein, in denen die Fäden der interalliierten Verhandlungen abzureißen schienen: der erste während der Erörterung des Problems der Rheingrenze, der zweite wegen des Schicksals des Saargebiets. Schon 1917 hatte Aristide Briand die Regierung des Zaren Nikolaus II. unmittelbar vor ihrem Sturz gebeten, später die französische Forderung nach einer Ostgrenze zu unterstützen, die sich bis zu den Grenzen des ehemaligen Fürstentums Lothringen erstrecken und nach strategischen Gesichtspunkten gezogen werden sollte, wodurch das Lothringer Erzbecken und das Saargebiet Frankreich einverleibt wurden. Der übrige Teil des linken Rheinufers sollte von Deutschland politisch und wirtschaftlich abgetrennt und in selbstständige und neutrale Staaten unter französischer militärischer Besetzung bis zur völligen Erfüllung der Friedensbedingungen durch den Feind aufgeteilt werden.
Am 27. November 1918 und am 10. Januar 1919 hatte Marschall Foch an Clemenceau zwei Denkschriften gerichtet, in denen er die Festsetzung der militärischen Grenze Deutschlands am Rhein forderte. Diese Schranke hielt er nicht nur für die französische, sondern auch für die englische Sicherheit für unbedingt notwendig. Die Gebiete auf dem linken Rheinufer sollten selbstständige Staaten bilden und auf ihren Wunsch durch eine Zollunion mit Frankreich, Belgien, ja, sogar mit England verbunden, gleichwohl aber von alliierten Streitkräften besetzt werden.
Für Frankreich war es ziemlich schwierig, diese Forderung zu unterstützen und gleichzeitig zu beteuern, dass es weder Annexionen noch Angriffe auf die Reichseinheit beabsichtige. Es war auch nicht gut verständlich, wie die etwaigen Staaten auf dem linken Rheinufer zugleich autonom und militärisch besetzt sein sollten. Ebenso wenig verstand man, wie sich Frankreich – ohne in Widerspruch mit sich selbst zu geraten – dem von Dorten angepriesenen rheinischen Separatismus und den föderalistischen Plänen eines Adenauer und Trimborn gegenüber gleichgültig verhalten, gleichzeitig aber die Schaffung unabhängiger Staaten auf dem linken Rheinufer betreiben konnte. Clemenceau und Tardieu machten sich indessen die Forderung Marschall Fochs zu eigen. In einem Memorandum vom 12. Februar und einer Note vom 12. März 1919 verlangten sie die militärische Rheingrenze, die Abtrennung des linken Rheinufers von Deutschland, die Umwandlung dieses Gebiets in ein oder mehrere unabhängige Staaten unter dem Schutz des Völkerbundes und deren Besetzung durch interalliierte Truppen kraft Mandats desselben Völkerbundes.
England gab sofort seine unbedingte Opposition gegen die französische Forderung kund, und Amerika schloss sich ihm an. Um aus dieser ausweglosen Situation herauszukommen, schlug Wilson, der von einem kurzen Aufenthalt in Amerika zurückgekehrt war, am 14. März im Verein mit Lloyd George vor, die von den Franzosen geforderte Sicherheitsgarantie der militärischen Besetzung deutscher Gebietsteile und die Gründung unabhängiger Staaten auf dem linken Rheinufer durch eine solidarische englische und amerikanische Verpflichtung zur Hilfeleistung an Frankreich im Falle eines nichtprovozierten deutschen Angriffs zu ersetzen.
Selbstverständlich musste die vorgeschlagene Verpflichtung die Zustimmung des Senats der Vereinigten Staaten erhalten. Wenn Amerika sie nicht ratifizierte, war England ipso facto von dieser Verpflichtung entbunden. Unter diesen Umständen zögerte Clemenceau und weigerte sich, abzuschließen. Am 7. April befahl Wilson, das Schiff seeklar zu machen, das ihn in die Vereinigten Staaten zurückbringen sollte.
Da der Bruch drohte, gab Clemenceau nach. Und als Gegenleistung für den englisch-amerikanischen Garantievertrag willigte er in die Bestimmungen über die militärische Besetzung der drei rheinischen Zonen auf fünfzehn Jahre und in das Rheinlandstatut ein, durch das die oben erwähnte Hohe Interalliierte Rheinlandkommission eingesetzt wurde. Von der Gründung eines oder mehrerer selbstständiger Staaten auf dem linken Rheinufer war nicht mehr die Rede, aber dieser Gedanke wurde nicht endgültig begraben, ebenso wenig wie die Verdächtigungen und Einwände der Engländer. Sie tauchten nach dem Zweiten Weltkrieg wieder auf, als es sich darum handelte, über das Los Deutschlands und dessen Westgrenze sowie über die Frage der französischen Sicherheit eine Entscheidung zu treffen. Nach 28 Jahren wurde dieser Gedanke ungefähr in der gleichen Form wieder aufs Tapet gebracht.
Die Frage der Rheingrenze hatte Frankreich besonders in Gegensatz zu England gestellt. Die Festsetzung des Saarstatuts führte hauptsächlich zum Konflikt mit dem Präsidenten Wilson. Die französischen Unterhändler hatten die Wiederherstellung der um einige Gebiete, besonders die Städte Saarbrücken und Landau, erweiterten Grenze von 1814 verlangt sowie den Besitz des Saarbeckens, dessen Kohlengruben für Frankreich und die wiedergewonnenen Provinzen unentbehrlich waren.
Die Engländer standen jeder Annexion feindlich gegenüber, nicht aber der Bildung eines unabhängigen Staates, der mit Frankreich durch Zollunion verbunden war, ebenso wenig der Abtretung der staatlichen Saargruben. Doch Wilson protestierte mit größter Heftigkeit und beschuldigte die Franzosen, so wie die Deutschen im Jahre 1871 zu handeln und ein zweites Elsaß-Lothringen vorzubereiten. Er hatte den Plan eines unabhängigen Staates und der Abtretung der Gruben an Frankreich verworfen. Und er drohte mit dem Bruch, getrieben von einigen seiner Berater, die ihn gegen den französischen Imperialismus aufzuhetzen und ihn zu bewegen suchten, seine Politik aufzugeben und zum Isolationismus zurückzukehren.
Auch hierin gab Frankreich nach und begnügte sich mit einer Lösung, wonach die Saar wirtschaftlich mit dem französischen Gebiet verbunden, ihm das Eigentumsrecht an den Kohlengruben übertragen und ein Saarstaat gebildet wurde, jedoch unter der Verwaltung einer interalliierten Regierungskommission und unter Aufsicht des Völkerbundes. Die ganze Regelung hatte den Charakter eines Provisoriums. Sie sollte nach fünfzehn Jahren durch eine Volksabstimmung wieder infrage gestellt werden, die der Bevölkerung Gelegenheit geben sollte,